Antisemitismus-Vorwürfe

Im Mai 2019 verabschiedete der Bundestag eine Resolution, in der Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung als antisemitisch bezeichnet wurden (vgl. Wetzel 2019: 76). Ich konnte die BDS-Kampagne – Boykott des Kaufes von Waren aus israelischen Siedlungsgebieten – nachvollziehen, daher verunsicherten mich diese Entscheidung und die anschließenden Diskussionen. War ich nun antisemitisch?

Im Juni 2019 trat der Direktor des Jüdischen Museums, Peter Schäfer, zurück. Er hatte angeblich die Interessen und Perspektiven der Palästinenser*innen im Gegensatz zu denen Israels zu stark vertreten. Ich neigte auch in diesem Fall jenen Wissenschaftler*innen und Autor*innen zu, die sich für Peter Schäfer einsetzten (vgl. Bax 2019). Aber wenn so viele Institutionen seine Position als antisemitisch einschätzten – was sollte ich davon halten?

Im Dezember 2020 erklärten eine Vielzahl von renommierten Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Intellektuellen in der Initiative Weltoffenheit den verallgemeinerten Antisemitismus-Vorwurf für falsch, aber auch ihnen gegenüber äußerten anerkannte Persönlichkeiten scharfe Kritik. Ich tendierte zu den in den Medien aufgeführten Argumenten der Initiative, wollte mich aber nicht näher damit beschäftigen.

Bis zu dem Zeitpunkt, als der Antisemitismus-Vorwurf gegenüber Amnesty International erhoben wurde: Amnesty, eine Organisation, die die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die Ausschaltung unerwünschter Stimmen in allen Teilen der Welt anprangert und manchmal auch erreicht, dass mutigen Menschen Gefängnis, Folter, Ermordung erspart bleiben. Im September 2019 hatte Amnesty noch voller Sorge über die Zunahme des Antisemitismus in Deutschland berichtet, Ähnliches äußerte die Organisation im November anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus. Und doch galt Amnesty nach dem Erscheinen des Amnesty-Jahresberichts 2021/22 als antisemitisch. Grund war die Behauptung, Israel praktiziere Apartheid gegenüber den arabischen Bewohner*innen des Staates Israel und der Siedlungsgebiete. Zeit Online, die Welt, die Deutsch-Israelische Gesellschaft und die Bundesregierung empörten sich über den vermeintlichen Antisemitismus. Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte eine Entschuldigung. Amnesty erklärte, dass die gleichen Kriterien für Israel wie für andere Länder gelten und dass daher der Begriff Apartheid für die Behandlung der arabischen Bevölkerung durch Israel korrekt sei. Gleichzeitig betonte die Organisation, wie wichtig eine Sensibilisierung gegen Antisemitismus sei. Diesmal war ich nicht verunichert, sondern empört über den Vorwurf des Antisemitismus. Aber ich wollte nicht in irgendeinen Chor einstimmen, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich geht. Zunächst hielt mich der Überfall Russlands auf die Ukraine in Atem, dann kamen die Skandale um die Documenta15.

Ich hatte nur wenig über diese Documenta gelesen, aber das Wenige erweckte in mir den Eindruck, dass in Kassel etwas Großartiges stattfand: Eine Ausstellung auf deutschem Boden, die den ehemals kolonialisierten globalen Süden ohne Kontrolle sprechen, dokumentieren, zeigen ließ, wie die Menschen dort die Welt sahen. In den folgenden erregten Diskussionen über antisemitische Inhalte der Ausstellung verlangten Kritiker*innen nicht nur Rücktritte der Verantwortlichen, sondern auch die Verlegung der Documenta an einen anderen Ort. Viele bekannte Künstler*innen und Autor*innen nahmen Partei für das Konzept (z.B. Menasse 2022; Detjen 2022). Dagegen war die Reaktion von Natan Sznaider erschütternd: „Was für uns Juden bleibt, ist, sich von der Illusion zu verabschieden, dass es für Antisemitismus im öffentlichen Raum Deutschlands keinen Platz mehr gibt. Es gibt diesen Raum und wir Juden müssen lernen, damit umzugehen. Man kann Antisemitismus oder Antiisraelismus nicht einfach wegdenken oder mit der richtigen Pädagogik von Antisemitismusexperten wegzaubern“ (2022:1).

Diese Resignation verstärkte meine Verunsicherung. Denn wie konnte es zu dieser erregten Debatte kommen? Wollten nicht alle das Gleiche, nämlich keinen Antisemitismus?

Von Kindheit an kamen Juden (1) in meinem Leben vor: Menschen, die meinen Eltern oder auch mir persönlich nahestanden, ohne dass ich den Holocaust ständig reflektierte, Da ich nun jedoch erfuhr, dass ich die Meinungen von Antisemit*innen teilte, fühlte ich mich persönlich angegriffen. Ich musste den Vorwürfen nachgehen.

Bei meinen Recherchen fand ich zunächst in den Unterlagen meines Vaters eine unscheinbare Broschüre mit dem Titel „Immer wieder – ‚Die Juden'“. Im Gegensatz zu der durch den Titel geweckten Erwartung, es handle sich bei dem Titel um eine antisemitische Schmähschrift, ist dies eine Verteidigungsrede für die Juden in einer antisemitischen deutschen Gesellschaft. Mein Vater hat sie unter dem Pseudonym Lothar Ball 1953 oder 1954 verfasst. Sie war ein Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Holocaust, Antisemit*innen die Absurdität ihrer Haltung klar zu machen. Ein hilfloser Versuch, denn es war die Zeit, in der die „Wiedergutmachung“ diskutiert und begonnen wurde. Die überwältigende Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung lehnte sie ab (2). Damals WAR die deutsche Gesellschaft weitgehend antisemitisch.

Aber ich wusste schon als Kind: Wir, das heißt, die autochthone Bevölkerung der BRD, haben mit dem Holocaust eine ungeheure Schuld auf uns geladen. Auch wenn nicht alle Deutschen dafür verantwortlich waren, so haben sie es geschehen lassen. Diese Schuld gehört zu unserer Geschichte und ist auch aus der Gegenwart nicht wegzudenken. Selbst wenn alle Täter*innen und alle Holocaust-Überlebenden gestorben sind, werden Deutsche sich an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes erinnern und der Opfer gedenken müssen.

Und nun die Verunsicherung: Waren meine Einschätzungen von Israel als Kolonialmacht Antisemitismus? War das Etikett „Apartheid“ für Israel ein Ausdruck von Antisemitismus? Konnte meine Gleichgültigkeit gegenüber zwei kleinen Flecken auf einem Stück Stoff bei der Documenta als Judenfeindschaft gelten? Auch wenn die Initiative Weltoffenheit mir aus der Seele sprach – mein Wissen reichte nicht aus, um eine eigenständige Perspektive zu entwickeln. Was ist überhaupt Antisemitismus?

Antisemitismus und Juden in Deutschland

Ich begann mit der Frage, als was Antisemitismus heute angesehen wird. Eine allgemein anerkannte Definition von Antisemitismus gibt es allerdings nicht (vgl. a. Antisemitismus in Deutschland 2011: 10).

In den aktuellen Auseinandersetzungen spielten vor allem zwei Definitionen eine Rolle, die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und die Jerusalem Erklärung. Erstere wird dem Antisemitismusbericht der Zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency für 2021 zugrundegelegt. Viele Staaten und Organisationen beziehen sich auf diese Erklärung, so auch der Deutsche Bundestag bei der Resolution zur BDS-Kampagne.

Die Definition des IHRA wurde ebenso kritisiert (z.B. von Holz/Haury 2022: 18; Asseburg 2020: 295; Detjen 2022; Neiman 2022) wie die 2021 veröffentlichte sogenannte Jerusalem-Erklärung (z.B. Antonio Amadeo Stiftung 2022; Grigat 2022b).

Da die meisten Diskussionen sich um die Beziehung zu Israel drehen, konzentrieren sich neuere Publikationen von vorneherein auf den Antisemitismus im Hinblick auf Israel (vgl. Rensmann 2021 und Holz/Haury 2021. ) Während Rensmann die verschiedenen Aspekte von Judenfeindschaft bezogen auf Israel benennt, betrachten Holz und Haury „Antisemitismus als eine Selbst- und Weltsicht, in der die Identität eines Ich und Wir in ein Weltverständnis integriert ist, in dem die angeblichen Übel ‚unserer‘ Welt den ‚Juden‘ zur Last gelegt werden“ (356). Die Autoren insistieren in ihrer grundlegenden Analyse auf der Bedeutung des Kontexts, aus dem heraus und in dem eine Aussage gemacht wird. Aber dazu bedarf es zunächst der Kenntnisse über Juden in Deutschland und über den Staat Israel.

Um zu begreifen, was Antisemitismus bei der jüdischen Minderheit anrichtet, macht es Sinn, zu fragen, wer in Deutschland als Jude lebt und vom Antisemitismus potentiell betroffen ist. Die Gesamtzahl von Juden in Deutschland wurde 2019 auf 225.000 geschätzt. 2021 gehörten in Deutschland 91.839 Menschen jüdischen Gemeinden an, also weniger als die Hälfte der jüdischen Minderheit. Innerhalb der religiösen wie der nicht religiösen Judenschaft gibt es eine große Heterogenität, die sich aus der Diversität jüdischer Schicksale und Lebensentwürfe speist und sich insofern nicht von der Heterogenität anderer Gesellschaften unterscheidet, in denen Diversität zugelassen ist. Die religiösen jüdischen Gemeinschaften, Israel nahestehende Institutionen und israelische Politiker sind es allerdings, die den Diskurs über Juden in Deutschland dominieren. Diese Dominanz fordert die Kritik säkularer Juden heraus (z.B. Amtmann 2022; Neiman 2022). Das „Machtmonopol und die damit verbundene Deutungshoheit zentralisierter Institutionen oder die Idee, diese würden für alle Jüd_innen sprechen“ schließt viele Juden aus (Amtmann 2022: 106). Die Forderung: „Jüdischkeit und Zugang zu jüdischer Kultur und Community sollten nicht an die Bedingung von Religiosität oder religiöser Zugehörigkeit geknüpft sein“ (ebenda:108).

Empirische Untersuchungen könnten Belege für die Einschätzungen von Juden zum Antisemitismus erbringen. Die Befragungen der Europäischen Union von Juden zum Antisemitismus (2012 und 2018) hatten jedoch gravierende methodische Fehler: „Selbstbeteiligung, Überrepräsentanz von Teilnehmern, die durch jüdische Medien motiviert und informiert waren und starke Unterbeteiligung von Nichtmitgliedern jüdischer Gemeinden und Organisationen – etwa die Hälfte der Juden Europas“ (Brecher 2020:55f).“ Sie reproduzierten auf diese Weise „bekannte Wahrnehmungsmuster, ohne die beschränkte Aussagekraft dieser Ergebnisse zu betonen“ (ebenda).

Die jüngste Antisemitismus-Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag des American Jewish Committee Berlin unter der deutschen Bevölkerung hat das Ziel, die Meinungen der Bevölkerung zum Antisemitismus zu erheben. Die Ergebnisse zeigen bei den Befragten „eine große Sensiblität gegenüber dem Problem des Antisemitismus“ (S.7). Antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung haben nicht stark zugenommen, dieses Ergebnis deckt sich mit dem anderer Untersuchungen (3) , aber zwei Drittel der Befragten glauben dies. Die Forscher*innen vermuten aufgrund der Mediennutzung der Befragten, „dass das Meinungsbild in dieser Frage zumindest teilweise medienvermittelt ist.“ (American Jewish Committee 2022: 6).

Die Besonderheit der Befragung liegt in der Gegenüberstellung von Ergebnissen der Durchschnittsbevölkerung und denen muslimischer Befragter. Die Forscher*innen gingen – vermutlich auf Geheiß der Auftraggeber – davon aus, dass Muslim*innen eine besondere Gruppe von zu Befragenden darstellen, obwohl wir wissen, dass in Deutschland die größte Anzahl von antisemitischen Übergriffen und vor allem von Gewalttaten von Rechtsextremist_innen verübt werden. Vernachlässigt wird ferner, dass Muslim*innen selbst rassistischen Übergriffen und Gewalt ausgesetzt sind. Von daher erscheint die durchgängige Unterscheidung des Samples als Vorurteil gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe. Dabei sind die Unterschiede zwischen beiden Gruppen häufig gering. Das betrifft z.B. die Antworten auf die Fragen, ob Antisemitismus in Deutschland ein Problem sei und ob angemessen darüber gesprochen werde (ebenda, S 8/9). Nur 43 % der Befragten finden Juden sympathisch, aber immerhin noch 37 % der Muslime. Umgekehrt finden 25 % der Befragten Muslime sympathisch, hingegen 76 % der Muslime. In diesen Ergebnissen spiegelt sich der Kontext der muslimischen Minderheit, der „durch ein ‚rassifiziertes System gesellschaftlicher Arbeitsteilung‘ gekennzeichnet (ist), das sie zu Fremden in der Einwanderungsgesellschaft macht “ (Holz/Haury 2021: 206)(4).

Diese Studie unterscheidet sich zwar positiv von den EU-Studien im Hinblick auf Repräsentativität. Ein Online-Fragebogen kann jedoch einem so vielschichtigen Problem wie dem Antisemitismus aus methodologischen Gründen nicht gerecht werden. Differenzierte, qualitative Untersuchungen (5), wie sie derzeit im Forschungsverbund fona21 laufen, werden hoffentlich Aufschlüsse geben, ob und in welcher Weise Juden Antisemitismus erleben.

Der Staat Israel

Die Gründung eines jüdischen Staates war der Traum der zionistischen Bewegung (6), ein Resultat der Erkenntnis, dass die Diskriminierung und damit Gefährdung der Juden auch durch Assimilierungsstrategien nicht verschwand (vgl. Brenner 2020; Sznaider 2022). Die jahrhundertelang erlebte Verfolgung bis hin zur faktischen Ermordung bewirkt auch heute bei in Deutschland lebenden, jüngeren Jüdinnen und Juden das Gefühl der Unsicherheit. Durch Übergriffe bis hin zu Anschlägen wie in Halle wird es dramatisch reaktiviert (vgl. die Beiträge in Cazés 2022). Wer könnte sich anmaßen, den zionistischen Traum von vorneherein zu verurteilen?

Das Problem des Zionismus von Anfang an war der Ort, in dem der Traum realisiert werden sollte. Allmählich schälte sich das in der Bibel als Land Israel beschriebene Palästina als Ziel heraus. Dort lebten Araber*innen, deren Interessen der Zionismus und die damaligen Kolonialmächte nicht primär im Blick hatten. Das war das Verhängnis, das auch heute auf dem Staat Israel lastet: die Lebensform und Kultur der Araber*innen wie auch die schon damals prekäre Lage der Juden in Palästina nicht zu beachten. Dabei hatten doch die Nazis schon dafür gesorgt, dass Hass und Verachtung gegenüber Juden (vgl. dazu Grigat 2022a und b) geradezu gezüchtet wurden: unter anderem durch einen Radiosender speziell für die arabische Welt (vgl. Küntzel 2020).

Dessen ungeachtet wanderten ab 1880 Juden aus Europa in palästinensische Gebiete ein. Nach dem Ersten Weltkrieg übertrug der Völkerbund Großbritannien das Mandat für das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer und den Auftrag, die Balfour-Deklaration zu verwirklichen, „die aber die Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina nicht beeinträchtigen sollte“. Die Kosten für das Mandat und zunehmende Konflikte zwischen den arabischen Bewohner*innen und der wachsenden Anzahl jüdischer Einwander*innen veranlassten die Briten zu einer restriktiven Einwanderungspolitik, die Juden zwang, illegal nach Israel zu kommen. Die Gründung des Staates Israel war dann das Signal für Juden, zunächst vor allem von Überlebenden aus Europa, legal in Israel einzuwandern. Für die Araber war es der Beginn einer Kolonialisierung durch eine bislang ungeliebte Minderheit (vgl. Grigat 2022a). „Israel kann als eine Formation von weißen Europäern betrachtet werden, die in kolonialistischer Weise den arabischen Raum eroberten. Israel ist aber auch gleichzeitig ein Projekt der Befreiung der Juden, die in und außerhalb Europas von den ‚einheimischen‘ Menschen unterdrückt, verfolgt und schließlich auch ermordet wurden“ (Sznaider 2022:1, vgl. a. Oz 2020).

Diese Widersprüchlichkeit wurde verschärft durch den Sechs-Tage-Krieg 1967, den die Israelis abermals gegen die arabische Übermacht gewannen. Die damals besetzten Gebiete sind ein weiterer Grund, Israel Kolonialismus vorzuwerfen.

Als die Staatsgründung anstand und direkt danach versuchten die arabischen Staaten Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Syrien den Staat Israel zu verhindern bzw. zu zerstören. Arabische Bewohner*innen Palästinas flohen oder wurden vertrieben. Es handelte sich um 700 000 bis 800 000 Menschen, die das inzwischen israelische Staatsgebiet verließen. Eine etwa gleich große Anzahl von Juden wurde aus arabischen Staaten vertrieben (s.a. Grigat 2022a). Die Vertreibung der Palästinenser*innen wurde als Nakba (Katastrophe) im arabischen Gedächtnis gespeichert. Über die aus arabischen Staaten vertriebenen Juden gibt es kaum Zeugnisse in der Medienwelt (aber bei Grigat 2022a und b). Auch danach blieb die Region ein Krisenherd. Darüber hinaus gab es Unmengen von Angriffen von beiden Seiten in Israel und den besetzten Gebieten , darunter die Aufstände der palästinensischen Bevölkerung in Form der Intifadas. Der Staat Israel ist so mit nicht enden wollenden Herausforderungen einer feindlichen Umwelt konfrontiert.

Die BRD hat den Staat Israel de facto 1952, de jure erst 1962 anerkannt. Seit 1965 liefert die BRD Waffen an Israel. Immer wieder haben deutsche Regierungen die Verbundenheit mit dem Staat Israel bekräftigt. Eine Ablehnung des Existenzrechts Israels wird von der Regierung als Antisemitismus gewertet. Diese Bewertung teilen mit ihr NGOs wie die Antonio Amadeo Stiftung und Forschungsinstitute wie Allensbach. So wird ein negatives Bild von Israel in der Allensbach-Studie als antisemitisch angesehen, ohne den Kontext zu kennen, in dem diese Kritik erfolgt. Auch die Ablehnung der Staatsdoktrin Deutschlands, nach der die Sicherheit Israels verteidigt werden muss, wird als antisemitisch angesehen, ohne dass nach dem Grund für diese Skepsis gefragt worden wäre (S. 39).

Deutschland kann aufgrund seiner Verantwortung für den Genozid, und damit auch für die Stärke des Zionismus, nicht anders, als diesen Staat zu befürworten. Von Muslim*innen aus den arabischen Ländern kann man dies nicht als selbstverständlich erwarten (vgl. a. Holz/Haury). Bei ihnen spielen Narrative aus den Herkunftsländern und auch die eigene Erfahrung als diskriminierte Minderheit eine Rolle. Was bedeuten diese Fakten für die Diskussion über BDS, Amnesty und die Documenta15?

Die Vorwürfe

BDS-Kampagne

Der (jüdische) Politiker Stein und und der (jüdische) Wissenschaftler Zimmermann wiesen auf die Absurdität hin, dass die Resolution gegen BDS aufgrund der AFD initiiert wurde, die die „Altparteien“ beschuldigte, Israel nicht ausreichend zu schützen und damit den Antisemitismus zu fördern (2019:28). Die Autoren warfen den Befürworter*innen der Resolution vor, damit „von den Hauptverfechtern des Antisemitisms abzulenken“ und „dem Kampf gegen Antisemitismus“ zu schaden (S. 31).

Judith Butler, ebenfalls Jüdin, wurde 2012 bei ihrem Besuch in Deutschland zur Entgegennahme des Adorno-Preises scharf angegrifffen, als sie den Zionismus, die geistige Grundlage des Staates Israel in Frage stellte. Diese Bewertung, verbunden mit ihrer Unterstützung für die BDS-Kampagne und Bewertungen der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah als linken Bewegungen führten zu scharfer Kritik, auch der Jüdischen Gemeinde. In einem Gespräch mit Micha Brumlik verdeutlichte Butler ihre Auffassungen: Juden müssten in jedem Fall geschützt werden. Es sei aber ungewiss, ob der Zionismus die beste Lösung dafür darstelle.

Holz/Haury haben die Vertreter*innen des BDS und ihre Botschaften einer genauen Analyse unterzogen. Laut ihren Recherchen sind die Initiator*innen des BDS radikale islamistische Kräfte, darunter die Hamas und die PFLP, die auch Raketenangriffe und Suizidanschläge auf die israelische Zivilbevölkerung zu verantworten haben (S. 217). Inhaltlich impliziert BDS die Forderung, dass Israel allen aus Israel geflohenen Palästinenser*innen die Rückkehr ermöglicht. Sowohl die fehlende Bereitschaft arabischer Staaten, Flüchtlinge zu integrieren wie die demographisch unterschiedliche Entwicklung von Israelis (ohne die orthodoxen Juden) und Palästinenser*innen wird ignoriert. Holz/Haury weisen auch darauf hin, dass nicht alle BDS-Befürworter*innen allen diesen Punkten folgen. Aber die genannten Tatsachen sind Symptome von Antisemitismus, also einer feindseligen, Kriminalität unterstellenden Meinung über Juden in Israel, auch wenn eine Verletzung der Menschenrechte in den palästinensischen Gebieten, also Kolonialismus nicht bestritten werden kann. Dennoch ist der verallgemeinernde Vorwurf des Antisemitismus beim BDS falsch. Im Blick auf diese Organisation zeigt sich die ganze Problematik des Antisemitismus, der sich auf Israel bezieht: „Wir haben es zugleich mit einer in Teilen klar antisemitischen Bewegung BDS und einem instrumentalisierten Antisemitismusvorwurf, mit einem als Israelkritik erscheinenden Antisemitismus und einem inflationären Gebrauch des Antisemitismusbegriffs zu tun“ (Holz/Haury 2022: 223). Diese differenzierende Analyse zeigt, in welchen schwindelerregenden Höhen sich die Diskussion über die BDS-Kampagne in Deutschland verzettelt. Weder der Antisemtismus-Vorwurf allein noch die Kampagne für BDS treffen das Problem. Für mich heißt dies dennoch: Auch eine Befürworter*in eines Boykotts von Waren aus den besetzten Gebieten begibt sich bei einer Solidarisierung mit dem BDS in Gefahr, antisemitischen Forderungen nach der Zerstörung Israels aufzusitzen, weil dieser eben auch judenfeindliche Forderungen erhebt.

Amnesty International

In ihrem Bericht zu Menschenrechtsverletzungen durch Israel beschreibt die Organisation die Vielzahl von Repressionen, die den Begriff „Apartheid“ durch Israel begründen. Der Rassismus gegenüber den Palästinenser*innen und die Zersplitterung der palästinensischen Gebiete werden benannt. Es finden sich aber auch Statements darin, die als Feindseligkeit gegenüber Israel interpretiert werden können: Die Forderung nach Anerkennung des Rechts auf Rückkehr ist mit den gleichen Problemen behaftet wie sie schon für den BDS aufgeführt wurden.

Amnesty ist – zumindest in der Zusammenfassung – in ihrem Bericht teilweise ungenau und missverständlich. Die innerarabischen und -palästinensischen Konflikte, die eine friedliche Lösung mit verhindert haben, werden außen vor gelassen.

Der Begriff der Apartheid für die Behandlung der Palästinenser*innen ist also nicht ganz falsch. Aber er ist eben auch nicht ganz richtig, weil Südafrika und Israel eine sehr unterschiedliche Geschichte haben. Die Diskussion über den Vorwurf trug bei zu einer „Verkürzung, die im Ergebnis dazu dient, Kritik an Besatzung und Ungleichbehandlung zu delegitimieren“ (Asseburg 2020:296).

Documenta 15

Die Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Documenta15 unterscheiden sich von denen gegen BDS und Amnesty in einem wesentlichen Punkt: Kritisiert wurde der Blick von Künstler*innen einer anderen Ethnie. Damit war die Kritik ein Angriff auf die Freiheit der Kunst und auf die Wahrnehmung Anderer, die nicht den Holocaust verursacht haben.

Die Antonio Amadeo Stiftung ist eine der Institutionen, die sich um die Benennung und Bekämpfung des Rassismus verdient machen. Beim Streit um die Documenta15 übernehmen sie allerdings Be- und Verurteilungen, die teilweise polemischen Charakter haben. So wird nicht immer unterschieden zwischen Kritik an und Hass auf Israel. Es wird zudem außer acht gelassen, dass die Kritik an Israel sich in vielen Fällen ausschließlich auf die staatliche Politik und nicht auf den Staat als solchen bezieht.

Die Behauptung „Israelhass und Judenhass sind miteinander verwoben“ (Antonio Amadeo Stiftung 2022: 9), die aus den Ergebnissen der Allensbach-Studie abgeleitet wird, ist eine Übertreibung. Denn in keinem der Statements, zu denen Ablehnung oder Zustimmung erfragt wurden, lässt sich Judenhass oder Israelhass erkennen.

Zum Ruangrupa-Kunstwerk schreiben die Autor*innen: „Die Hakennase zur Kennzeichnung von Jüdinnen*Juden ist antisemitisch.“ Dagegen setzt Philippe Pirotte: „Viele hier dargestellten Figuren in der uralten Wyang-Kult-Tradition haben auch Hakennasen, rote Augen und Vampirzähne“ (2022:20) und fügt hinzu, dass das Künstlerkollektiv sich entschuldigt habe, wenn sie Juden beleidigt oder gekränkt hätten.

Ruangrupa hat einen Fehler gemacht, weil sie die deutsche Situation zu wenig berücksichtigt haben. Die Leitung der Documenta hätte einschreiten können, ohne das Poster zu verbieten. Aber die Empörung vieler angeblicher Vertreter*innen jüdischer Interessen geht zum Einen an den schrecklichen Erfahrungen anderer Völker und Minderheiten, zum Anderen an den faktischen Problemen des Antisemitismus in Deutschland wie in Israel vorbei.

Nicht überall und nicht einmal innerhalb der ganzen Europäischen Union wird der Holocaus als universelles Zeichen verstanden. Wenn dies nicht einmal an herausragenden Schauplätzen der Shoah der Fall ist, „.. wie können wir dann von Menschen auf anderen Kontinenten und in anderen historischen Erfahrungswelten verlangen, die Singularität des Holocaust anzuerkennen?“(Wiedemann 2022: 147) Erst die Geschichte mit den Augen des jeweils Anderen zu sehen ermöglicht Empathie auch für die andere Seite (ebenda).

Fakten und Debatten

Die Meldestellen des Bundesverbandes Rias e.V. haben im Jahr 2021 2738 antisemitische Vorfälle erfasst. Darunter befanden sich 2182 Vorfälle verletzenden Verhaltens, 101 Bedrohungen, 204 gezielte Sachbeschädigungen und 182 Massenzuschriften. Mit Gewalt gingen laut dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt 2021 51 antisemitische Vorfälle einher. Das heißt: Auch wenn der Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung wie auch bei Muslim*innen keine so bedeutende Rolle spielt, wie es manchmal in den Medien erscheint, gibt es Übergriffe bis hin zu Gewalt. Und jeder Übergriff ist einer zuviel in einem Land, das einzigartig in der Welt ist, was die Vernichtung von Juden angeht.

Aber die Keule Antisemitismus gegenüber Organisationen und Kulturschaffenden zu schwingen, die nicht 100prozentig auf der Linie der wahrgenommenen jüdischen Sprecher*innen liegen, lenkt von den tatsächlichen Problemen von Juden in Deutschland ab und dient einer Selbstvergewisserung als „Wir sind die Guten“ mehr als den Betroffenen.

Die Entwicklung im und um den Staat Israel wäre ein Grund, die Position der Selbstgerechtigkeit zu verlassen, denn Israel ist in Gefahr. Die Palästinenser*innen sind zwar gespalten, was die Gegnerschaft zu Israel angeht: Während die Fatah-Anhänger*innen eine friedliche Lösung anstrebten, zielt die Hamas nach wie vor auf die Vernichtung Israels, auch mit Terroranschlägen. Aber das israelische Militär und die israelische Verwaltung üben die Macht in den palästinensischen Gebieten aus. Die Situation dort ist für die Bewohner*innen eine ständige Bedrohung (vgl. Zang 2021: 18 f., 50 f., 64 f). Und auch Juden in Israel sind immer wieder Gewalt und Terrorrismus ausgesetzt.

Nicht nur in seinen Romanen hat Oz das Leiden der Israelis an dem Konflikt zum Ausdruck gebracht: „Die schon über hundert Jahre andauernden Auseinandersetzungen zwischen uns und den Palästinensern sind eine blutende Wunde, nicht nur eine blutende Wunde, sondern eine infizierte Wunde voller Eiter. Sie ist inzwischen schon zu einem Abszess geworden. So eine Wunde heilt man nicht so leicht. Das funktioniert nicht“ (Oz 2020: 12). Diese Wunde wurde durch die israelische Politik immer weiter verschärft: „Israelische Schriftsteller und jüdische Intellektuelle sehen eine ‚Erosion der Demokratie, ein Erstarken des Rassismus, das Aushöhlen des Rechtsstaates und einen immer rücksichtsloseren Einsatz von Gewalt‘ in Israel“ (Bartov 2019: 58).

Der damalige israelische Regierungschef Lapid sprach sich im September 22 bei der UN-Vollversammlung wieder für eine Zweistaatenlösung aus. Er bot sogar den PalästinenserInnen im Westjordanland an, gemeinsam die Wirtschaft aufzubauen. Nach der letzten Wahl in Israel gibt es jedoch keine Hoffnung für eine Lösung, die beide Seiten – die israelische und die arabische- zufriedenstellt.Die Zweitstaatenlösung ist durch die israelische Siedlungspolitik vom Tisch. Wie Israel überleben soll mit einer extrem rechten Regierung, die die Auflösung der Gewaltenteilung plant und Straftäter zu Ministern macht, weiß niemand.

Weder die Bundesregierung noch die jüdischen Repräsentant*innen ziehen ausreichende Konsequenzen aus der Gefahr, in der Israel sowohl von außen wie von innen schwebt. Die Bedrohungen von außen sieht Grigat (2022a, b) sehr deutlich, zumal die derzeitige Rebellion im Iran die Gefahr noch verstärkt. Aber auch von innen ist die Existenz Israel gefährdet: durch das Hintanstellen der bislang geltenden liberalen Werte und die Politik gegenüber den Palästinenser*innen.

Es ist zu befüchten, „dass Israel die jüdischen Mehrheitspositionen weltweit schwächt, gegen solche verstößt und einen Keil zwischen die jüdischen Gemeinschaften treibt. Israel bekommt eine Regierung, die rechtsextremer sein könnte als Kräfte in Europa. Entstanden ist das nicht über Nacht, sondern Resultat einer jahrelangen Entwicklung, die oft hinter anderen vorgelagerten Diskursen, wie Antisemitismus, verschwand“ (Kugelmann 2022).

Der Antisemitismus ist nicht das einzige Thema, bei dem die Welt in „Die Guten“ (=wir) und die Bösen (=die Anderen) eingeteilt wird, Gleiches geschieht z.B. bei der Debatte um Black Lives Matter (vgl. McWhorter 2022). Es bilden sich in der Ablehnung einer universalistischen Perspektive (Holz/Haury 2022) immer mehr Gemeinschaften, in denen „man sich wechselseitig der eigenen Vortrefflichkeit versichert, wie Hegel das in einer wunderbaren Formulierung genannt hat“ (Charim 2022:63). Gegenargumente müssen jedoch zugelassen werden, Ambiguität muss ausgehalten werden, um der Komplexität menschlichen Handelns und Denkens gerecht werden zu können (vgl. auch die Grundthesen von Holz/Haury 2022).

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ein Feld darstellt, in dem höchste Achtsamkeit vor Rechthaben und Selbstgewissheit stehen muss. Wird die Energie stattdessen auf die Streitkultur verlegt, wird großer Schaden angerichtet: für alle in Deutschland, aber vor allem für die Menschen in Israel.

Anmerkungen

(1) Obwohl Gender-Befürworterin verwende ich das Wort „Juden“, um Aussagen über beide bzw. mehrere Geschlechter zu machen. Sowohl vom Sprachlichen wie vom Schriftlichen her ist „Jüd*innen“ aufgrund eines im Begriff „Juden“ fehlenden Umlauts m.E. keine Lösung des sprachlichen Gender-Problems. Mit dem Wort „Juden“ sind im Folgenden alle Geschlechter gemeint. Sofern es sich ausschließlich um männliche oder weibliche Juden handelt, wird dies mit dem Zusatz eines Adjektivs kenntlich gemacht.

(2) „Lediglich 11 Prozent der Bundesbürger befürworteten das Wiedergutmachungsgesetz. 44 Prozent lehnten es rundheraus als überflüssig ab und bedienten sich hierzu eines ganzen Arsenals antisemitischer Ressentiments…“(Holz/Haury 2021: 88, Anmerkung 5). vgl. auch die erschütternden Ergebnisse zum fehlenden Schuldbewusstsein der Deutschen in Adorno/Horkheimer 1954.

(3) Die „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert Stiftung ergibt einen nicht eindeutigen Befund. Die Autoritarismus-Studie der Heinrich Böll-Stiftung stellt sogar eine Reduzierung des geäußerten Antisemitismus fest. Die Unterschiede der Ergebnisse können hier nicht analysiert werden.

(4) Zitat im Zitat: Stender, Wolfram (2010): Konstellationen des Antisemitismus.

Die Ablehnung bestimmter Bevölkerungsgruppen ist laut den Ergebnissen der Studie in einigen Fällen bei der deutschen Bevölkerung ausgeprägter als bei den Muslimen (z.B. Nordafrikaner*innen, Schwarze, Türk*innen). Bei den Sinti und Roma unterscheiden sich beide Gruppen kaum. Der gemeinschaftliche Rassismus und der der deutschen Bevölkerung wird nicht thematisiert (S. 17/18).

(5) Eine tiefer gehende wissenschaftliche Arbeit würde vermutlich schon bestehende qualitative Untersuchungen zutage fördern.

(6) Einige ultraorthodoxe jüdische Gruppierungen glaubten an die Diaspora als Lebensraum für Juden bis zur Ankunft des Messias. Chassidische Juden, die in Israel leben, entwickeln auch heute gegenüber dem Staat, der ihnen Schutz gewährt, eine ignorierende Haltung. . Das ändert sich allerdings zur Zeit, da radikal orthodoxe Juden Minister geworden sind.

Quellen

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4. Januar 2022


Eine tragische Situation

Die Lage

Der Ukrainekrieg beschwört die westliche Solidarität. Die EU, Großbritannien, vor allem aber die USA versprachen, die Ukraine zu unterstützen. Ziel ist ein Sieg der Ukraine, um sie als unabhängigen Staat zu erhalten, der sich der EU zuwendet. Die Solidarität speiste sich vordergründig aus der Empörung über den russischen Angriffskrieg und der Bereitschaft, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen. Dahinter stehen auch handfeste Interessen der USA, nämlich die Grenzen der westlichen Einflusssphäre in den Osten Europas zu verschieben und der Verkauf des durch Fracking gewonnenen Flüssiggases. Um sich im Verbund mit den USA gegen eine weitergehende Aggression Russlands zu schützen, hat die EU gemeinsam mit den USA zahlreiche Sanktionen gegen Russland verhängt, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Auswirkungen jedoch treffen die EuropäerInnen, nicht die USA. Und sie reichen nicht aus, um Russland zu einem Abbruch der Kriegshandlungen zu bewegen. Derweil zittert die EU, insbesondere Deutschland, vor einem Winter, in dem nicht ausreichend Energie zur Verfügung steht, um die Wirtschaft und die Opferbereitschaft der Bevölkerung am Laufen zu halten.

Indien, China, Iran und viele Staaten Afrikas haben aus vielen Gründen eine andere Haltung gegenüber dem Ukrainekrieg. Während große Teile Europas sich von den USA und der Nato geschützt fühlen, unterhalten sie nach wie vor wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland. Das hat zur Folge, dass Russland viele Hintertüren für die Durchsetzung seiner Interessen offenstehen, bis hin zur jüngsten Liaison Putins mit dem Iran und Lawrows Reise nach Afrika.

Wir sind an einem Stellvertreterkrieg beteiligt, in dem die Ukraine die Interessen der Nato und der USA unter Einsatz des Lebens und der Gesundheit ihrer Bevölkerung vertritt. Wenn wir Glück haben, werden damit auch unsere Interessen vertreten und wir müssen uns nicht mehr vor einer Ausweitung des inhumanen russischen Imperiums fürchten. Aber auch wenn die russische Armee offenbar in einer miserablen Verfassung ist, so ist doch davon auszugehen, dass Putin und Konsorten eher weiterhin Tausende ihrer Männer auf dem Schlachtfeld umbringen lassen, als ihre Ziele aufzugeben. Der Zermürbungskrieg fordert unendlich viele Opfer, und die Frage, ob wir, um deren Zahl zu reduzieren und einen Weg aus der Energiekrise zu finden doch auf Putin stärker eingehen müssen, wird selten gestellt – zu stark ist der Druck, sich aus den genannten Gründen mit dem Kampf der UkrainerInnen zu solidarisieren. Precht hat die Frage dennoch gestellt, und auch der sächsische Ministerpräsident. Kretschmer wurde auf seine Forderung, den Krieg einzufrieren, das Urteilsvermögen aberkannt, wobei Pöbel-Melnyk und die Süddeutsche ins gleiche Horn bliesen. Im Hinblick auf Prechts Aussagen hatte sich die Medienlandschaft schon genug über den Brief ereifert, den er mit anderen Intellektuellen zur Abwendung schwerer Waffen an den Bundeskanzler geschrieben hatte. Nach wie vor herrscht Übereinstimmung in den meisten Medien, dass der russische Vorschlag, NordStream 2 zu nutzen, wie es die Süddeutsche ausdrückte, „ein vergiftetes Angebot, der perfideste Köder seit Troja“ sei.

Die mediale Diskussion beschränkt sich derzeit auf die Frage, wo wir Energie herbekommen, um den kommenden Winter zu überstehen (vgl. u.a. den Presseclub vom letzten Sonntag). Wie teuer wird es, worauf müssen wir verzichten? Man könnte auch fragen, ob nicht die Angst vor der sozialen Unruhe der Armen durch eine andere Verteilung des Reichtums reduziert werden muss. Aber Politik und Medien sind sich weitgehend darin einig, diese Frage überhaupt nicht zu stellen. Und das ist nicht die einzige Leerstelle. Ich nenne nur zwei Bereiche, die zur Zeit in den Diskussionen ausgeblendet werden: Unsere Energiequellen und das Verhältnis zu den USA.

Unser Freund und Helfer: Die USA

Die USA sind unsere Verbündete und Kanzler Scholz macht keinen Schritt mehr und auch keinen weniger als dem mächtigen Verbündeten genehm ist. Biden propagiert: „Wir wollen eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die über die Mittel zur Abschreckung und Verteidigung gegen weitere Aggressionen verfügt.“ Dafür muss die Ukraine kämpfen, dafür erhält sie schwere Waffen, primär von den USA, aber auch von Deutschland. Damit sind wir Kriegspartei, ob wir es wollen oder nicht. Niemand weiß, wie lange sich der Krieg hinziehen wird, und je länger er dauert, umso gefährdeter ist die Freundschaft mit den USA. Denn Biden und seine Partei haben in den USA nicht mehr lange etwas zu sagen. Was, wenn die Republikaner, wie zu erwarten, seine Handlungsfähigkeit nach den nächsten Wahlen zum Repräsentantenhaus weiter beschneiden? Und, schlimmer noch, was, wenn 2024 die Republikaner bei der Präsidentenwahl wieder am Ruder sind? Bleiben die US-Amerikaner mit der NATO weiterhin unsere Verbündeten, die Europa im Kampf gegen die Territorrialgelüste der Russen unterstützen? Das ist eine der Fragen, die zur Zeit nicht gestellt werden.

Unsere Energiequellen

Im Angesicht der Klimakatastrophe, auf die wir zusteuern, ist jeder Krieg ein noch größerer Wahnsinn, als es Kriege generell sind. Harald Welzer hat die Umweltzerstörung durch den Ukrainekrieg beschrieben, damit einher geht immer auch eine Beschleunigung des Klimawandels. Aber wen kümmert diese Frage, wenn es um unsere Energiequellen für den Winter geht?

Die Rettung soll durch das LNG kommen, das Flüssiggas, das durch „Fracking“ gewonnen wird. Es wird befürchtet, dass die Erdgasförderung durch Fracking zu unkalkulierbaren Umweltschäden führt. Dazu das Umweltbundesamt 2018: „Die Fracking-Technologie kann zu Verunreinigungen im Grundwasser führen. Besorgnisse und Unsicherheiten bestehen besonders wegen des Einsatzes von Chemikalien und der Entsorgung des anfallenden Abwassers (Flowback).“ Neue Studien lassen zudem befürchten, dass Fracking zur Produktion von Methan beiträgt, das für unsere Atmosphäre extrem schädlich ist. Da das durch Fracking gewonnene Gas aber aus den USA importiert werden soll, bestehen in Deutschland keine Einwände.

Zur problematischen Gewinnung des Flüssiggases kommt, „dass der Prozess der Verflüssigung, die Kühlung beim Transport, der Transport selbst und die Regasifizierung am Import-Terminal sehr energieaufwändig sind. All das zusammengenommen macht LNG in der Regel klimaschädlicher als Erdgas, das über Pipelines transportiert wird “ (Carstens 2022).

Im Gegensatz zu Europa waren viele Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas schon lange vor dem Ukrainekrieg auf LNG angewiesen. Die höheren Preise, die nun die EU dafür zahlt, berauben diese Staaten der Möglichkeit, ihren BürgerInnen Gas und Strom zu erträglichen Preisen anzubieten. Die europäischen Staaten haben „ihren Flüssiggasimport vom 1. Januar bis zum 19. Juni im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 49 Prozent gesteigert; dabei nutzen sie die Tatsache aus, dass sie erheblich höhere Preise zahlen können als die Entwicklungs- und Schwellenländer etwa Südasiens.“ „Die europäische Gaskrise saugt die Welt bis aufs Blut aus“, erklärt ein Experte des auf Energie und Rohstoffe spezialisierten Beratungsunternehmens Wood Mackenzie. Die Folge unserer Jagd nach dem umweltschädlichen Rohstoff ist das Stillegen von Industrien und Armut, bis zu Aufständen.

Was tun?

Wir haben die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, oder zwischen Pest und Cholera. Wenn wir NordStream 2 aufmachen, vermeiden wir voraussichtlich soziale Aufstände und, damit einhergehend, einen Ruck nach rechts. Wir müssten uns nicht bei Erdogan bedanken, der einen Getreidekompromiss verhandelt hat und auf der anderen Seite die Kurden verfolgt und kritische JournalistInnen einsperrt. Wir würden so Millionen Menschen das Überleben ermöglichen. Gleichzeitig würden wir Russlands Ökonomie und Status im Kriegs wie auch seine autokratischen Companeros stärken, wir würden in eine EU- und Nato-Krise rasseln und die USA wären nicht mehr unser Freund. Wenn wir aber – das ist die andere Seite – in großem Maßstab umweltgefährdende Energiequellen wie LNG importieren oder die AKWs reaktivieren, gefährden wir unsere Zukunft und die unserer Kinder.

Wie auch immer wir uns verhalten, wir werden schuldig – eine klassische Tragödie unseres ganzen Volkes, nicht nur der PolitikerInnen.

Entscheidungen gegen das Volk: Der Supreme Court in den USA

Was sich in den USA durch die Entscheidungen des Supreme Court, des obersten Gerichts der USA, abzeichnet, ist das Ende einer Gesellschaft, in der das Recht das Leben der Menschen schützt.

Der Supreme Court hat auf Betreiben religöser Gruppen gegen das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung entschieden, und damit gegen die Freiheit der Frauen, straflos abzutreiben. Es hilft nichts, dass Präsident Biden das Gericht als extremistisch beschimpft

Der Supreme Court hat entschieden, dass jeder US-Amerikaner in der Öffentlichkeit Waffen tragen darf. Es hilft nichts, wenn die Gouverneurin von New York sagt: „Diese Entscheidung ist nicht nur rücksichtslos, sie ist verwerflich“. Leben und Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger, zuvörderst aber die Kinder sind weiterhin dem Wahn von waffentragenden Männern ausgeliefert. Die Waffen-Lobby hat gewonnen.

Der Supreme Court hat wirksamen Klimaschutz als nicht mit der Verfassung vereinbar bezeichnet. Aufgrund einer Klage der Kohlelobby hat er entschieden, dass die Umweltbehörde nicht befugt ist, Treibhausgasemissionen zu regulieren. Es hilft nichts, dass Präsident Biden die Entscheidung „verheerend“ nennt.

Der Rechtsstaat hat gesprochen. Aber da, wo das Recht zum Machtinstrument der Rechten wird, hat es seine Kraft, Gerechtigkeit zu schaffen, verloren.

Ignorieren, diskriminieren – Giftspritzen für die Demokratie

Demokratie zeichnet sich aus durch Diskussionen, Auseinandersetzungen, in denen alle Meinungen respektiert werden. Je länger an einem Thema diskutiert wird, desto größer die Chance, dass sich dann die Mehrheit auf eine Lösung einigt. Aber es gibt Situationen, in denen Entscheidungen sehr schnell getroffen werden müssen. Dann besteht die Gefahr der Vereinseitigung der Diskussion. In solchen Situationen, häufig als „Krisen“ bezeichnet, besteht die Gefahr des Beiseitedrängens der DiskutantInnen, die nicht die Mehrheitsmeinung teilen. „Beiseitedrängen“ meint: Ignorieren der anderen Stimmen, Diskriminieren der anders Denkenden. Am Beispiel der Pandemie und des Ukrainekrieges lässt sich zeigen, wie diese Umgangsformen an der Demokratie zehren.

In „Krisen“ wird häufig die Frage nach strukturellen Ursachen in den Hintergrund gedrängt, das öffentliche Ringen um eine richtige, adäquate Entscheidung ausgehebelt. Eine Folge für die Verengung der Pandemie-Diskussion war eine Spaltung der Gesellschaft, die sich demokrtiefeindliche Kräfte zunutze machen konnten. Die Folgen der Verengung in der Ukraine-Debatte zeigen sich in der Diskriminierung aller derer, die nicht glauben, dass dem Aggressionskrieg mit schweren Waffen begegnet werden sollte.

Im Folgenden versuche ich die beiden Spaltungen zumindest teilweise nachzuvollziehen, nicht zuletzt mit der Frage: Was müsste anders laufen im öffentlichen Diskurs, damit wir alle, wenn wir nicht einer Meinung sind, wenigstens im Gespräch miteinander bleiben? In der Pandemie wurde dies durch einseitige Berichterstattung in Fernsehen und Presse auf der einen Seite, aufgeblasene Erzählungen bis hin zu Verschwörungstheorien in alternativen Informationskanälen auf der anderen Seite verhindert. Auch im Ukrainekrieg leisten die Medien das Ihre. Dazu später mehr.

Verengte Perspektiven in der Pandemie

Wie jede Krise so hat auch die Pandemie ganz verschiedene Facetten, die nur angetippt werden können. Erwähnt werden soll zunächst der Nationalismus, der fröhliche Urständ feierte: Es ging einzig und allein um unsere, die deutschen Interessen. Der Blick in andere Staaten reichte gerade noch bis zu den EU-Grenzen, aber dann war Schluss mit der Empathie. Deutschland blockierte im Verein mit den Industrienationen die Forderung der WHO, der G7 und anderer Organisationen, die Patente freizugeben, so dass die Bevölkerung ärmerer Erdteile ebenfalls geimpft werden könnte. Diese Forderung wurde inzwischen von der WTO geteilt.

Hingewiesen sei auch auf Fehler der Vergangenheit. Alle Warnungen vor einer Pandemie waren überhört worden, die gesundheitspolitischen Akteure hatten keine entsprechenden Maßnahmen getroffen. Im Gegenteil: Der öffentliche Gesundheitsdienst war ausgedünnt worden, das gesamte Gesundheitswesen Gesetzen von Gewinn und Rentabilität unterworfen (vgl. die ausführliche Darstellung von Roth 2022).

Ein dritter Faktor, der das Leben in der Pandemie erschwerte und die Glaubwürdigkeit der getroffenen Entscheidungen in Frage stellte, war das Chaos in der Wissenschaft. Von ihr erwartete man eindeutige Prognosen und Voten für eindämmende Maßnahmen. Stattdessen stürzten sich die WissenschaftlerInnen in öffentlich ausgetragene Diskussionen über die „richtigen“ Maßnahmen. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen, von Roth (2022: 322 f) als „Schisma“ bezeichnet, führten in Deutschland zu einer irritierenden, widersprüchlichen Politik. Damit wurden einerseits die Angst vor der Pandemie und andererseits die bei Teilen der Bevölkerung ohnehin vorhandene Skepsis gegenüber staatlichen Maßnahmen verstärkt. Dies war der Nährboden für Gegenbewegungen zu allen Teilen der Pandemie-Politik, und dann auch zur Impfung.

Mediale Einseitigkeit verstärkte bei SkeptikerInnen den Eindruck, die Impfkampagnen und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dienten den Zwecken des Staates und nicht der Bevölkerung, denn die Berichterstattung in den Leitmedien blendete die Skepsis aus, wie Guérot (2022) beschreibt (1). Da keine Erfahrungen mit einer Pandemie vorlagen, konnten sich Gerüchte entwickeln, die in anderen, rechtsradikalen Lagern entstanden waren, z.B. die Geschichte von Bill Gates, der die Medien kontrolliere. Richtig ist, dass z.B. Der Spiegel eine beträchtliche Summe von der Bill und Melinda Gates Stiftung erhielt. Auf meine entsprechende Anfrage beim Spiegel erhielt ich die Antwort: „Die redaktionellen Inhalte von „Global Development“ und des SPIEGEL entstehen ohne jeden Einfluss der Stiftung, so ist es auch vertraglich festgehalten. Das gilt für die Gates-Stiftung im übrigen genauso wie für die Anzeigenkunden des SPIEGEL, die auch keinerlei Einfluss auf unsere redaktionelle Berichterstattung haben.“ (Mail vom 1.6.22)

Ähnlich das Gerücht, Bill Gates wolle mithilfe der Impfung Chips unter die Haut einsetzen, um die Menschen zu überwachen. Tatsache ist, dass in Schweden ein Chip entwickelt werden konnte, der Betriebsangehörigen eingesetzt wird, um den Zugang zur Arbeit zu kontrollieren. Dieser Chip kann auch zur Kontrolle des Impfstatus eingesetzt werden. Seit Dezember 21 wird dies auch umgesetzt, vorläufig in Schweden.

Die spärliche Darstellung der Aktivität und Interessen der Bill und Melinda Gates Stiftung (2) in den Leitmedien ist vermutlich ein Brandbeschleuniger für die Stärkung von VerschwörungstheoretikerInnen in den sozialen Medien wie Telegram und Twitter (3) gewesen. Dies zu untersuchen kann hier nicht geleistet werden.

Ein Teil der QuerdenkerInnen, die nicht ideologisch fixiert sind, hat schlicht Angst vor der Impfung (vgl. Grande et al. 2022). Und es gibt Nebenwirkungen. Schwere Nebenwirkungen der Impfung sind Herzrhythmusstörungen, Arbeitsunfähigkeit, Lähmungen, eine Krallenhand. Blutuntersuchungen betroffener PatientInnen ergaben Antiautokörper im Blut, die das eigene Gewebe angreifen.

Das Paul-Ehrlich-Institut hält die Anzahl der schweren Nebenwirkungen nicht für ausreichend, um eine Risikolage festzustellen. Die dort gemeldeten Fälle sind aber wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn mehrere Faktoren sorgten dafür, dass auch schwere Nebenwirkungen im Paul-Ehrlich-Institut nicht aufgenommen wurden:

  • Nebenwirkungen werden aus Unkenntnis nicht als solche diagnostiziert.
  • Der Aufwand für eine Meldung an die entsprechenden Institutionen wird vermieden.
  • Kritische Punkte der Impfung werden verschwiegen, um nicht dem Verdacht Vorschub zu leisten, einE ImpfgegnerIn zu sein. So sprechen auch ÄrztInnen in Universitätskliniken am Telefon über schwere Nebenwirkungen, wollen sich aber schriftlich nicht äußern, um nicht in diesen Verdacht zu geraten.

Der letzte Punkt ist verheerend, weil Fachleute auf ihre freie Meinungsäußerung verzichten zugunsten eines Tabus.

Schwere Nebenwirkungen sind für die Betroffenen eine Tragödie, denn sie haben an den positiven Effekt der Impfung geglaubt. Wenn diese Nebenwirkungen, wie geschehen, in den Leitmedien verschwiegen werden, wenn stattdessen die Opfer der Impfung sich rechtfertigen müssen, verstärkt dies die Position der ImpfgegnerInnen und auch der VerschwörerInnen. Aber nicht nur, dass man bis vor kurzem nichts über Nebenwirkungen in den Leitmedien erfuhr. Die Betroffenen haben zusätzlich das Problem, dass ihre Probleme von der Politik und den wissenschaftlichen Instituten nicht ernst genommen werden (vgl. den Bericht einer Betroffenen im Interview). Anfragen von medizinischen ExpertInnen beim Paul-Ehrlich-Institut, bei Behörden und Karl Lauterbach wurden nicht beantwortet. Das betraf z.B. Marion Bimmler, Leiterin eines Forschungslabors in Berlin, die 300 PatientInnen mit Antiautokörpern im Blut untersucht hatte.

Die Vernachlässigung der negativen Wirkungen der Impfung schwächt das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Gestärkt werden SkeptikerInnen, GegnerInnen und deren Verschwörungsphantasien. Zumindest die Fehler bei den Maßnahmen gegen die Pandemie werden zur Zeit vom Corona-Sachverständigenausschuss analysiert (vgl. Stöhr 2022). Darüber hinaus sind eine Anerkennung der Leiden von Menschen, die Nebenwirkungen erleiden, die Einrichtung von Anlaufstellen und eine Entschädigung der Opfer, die es besonders schwer getroffen hat, fällig. Das wäre das Mindeste nach der Ignoranz gegenüber Klagen bis hin zur Diskriminierung der Betroffenen und der MedizinerInnen, die ihr Leid ernst genommen haben.

Verengte Perspektiven im Ukrainekrieg:

Die Diskussion um schwere Waffen und Kriegsziele

Zu Beginn des Ukrainekrieges zerbrach beim allergrössten Teil der europäischen Bevölkerung die Illusion, in einer friedlichen Welt zu leben (4). Die Solidarität mit der Ukraine war überwältigend, aber als der Krieg nicht nach wenigen Tagen zu Ende war, schieden sich die Geister: Der eine Teil der Bevölkerung befürwortete die Lieferung schwerer Waffen für die Ukraine, der andere Teil hoffte auf baldige Verhandlungen, um dem Töten und Sterben ein Ende zu machen. Die beiden Positionen drückten sich in zwei Offenen Briefen bekannter Persönlichkeiten aus. Von der Zeitschrift EMMA, bzw. Alice Schwarzer kam der Aufruf an Kanzler Scholz, auf Verhandlungen zu setzen und keine schweren Waffen zu liefern. Die Begründung waren die Sorge, Deutschland könne selbst als Kriegspartei angesehen werden und das Ausmaß an Zerstörung und Leid in der ukrainischen Zivilbevölkerung noch mehr steigen. Ein weiterer Offener Brief, diesmal unterschrieben von anderen Intellektuellen, richtete sich ebenfalls an Kanzler Scholz und beschwor ihn, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Der Brief der GegnerInnen von schweren Waffen für die Ukraine wurde als fehlende Empathie für die derzeitigen Opfer des Krieges dargestellt, darunter auch in der (linken?) taz. Hingegen verteidigte Jürgen Habermas die Zurückhaltung von Kanzler Scholz als Bemühung, eine Eskalation des Krieges zu vermeiden.

In keinem der Briefe wird auf die Vorgeschichte des Ukrainekonflikts eingegangen, das haben u.a. Sarah Wagenknecht und Ulrike Guérot in Talkshows versucht. Die Osterweiterung der Nato wurde in den USA von dem Historiker und Diplomaten George F. Kennan 1997 als „verhängnisvollster Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ beurteilt, weil „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden“ (vgl. Wikipedia, vgl. auch Mezzadra 2022).

Schon wer auf diesen Hintergrund hinweist, macht sich der Kumpanei mit Putin verdächtig, zum Beispiel Sarah Wagenknecht. Sie sprach sich für Verhandlungen auch nach den Kriegsverbrechen in Butscha aus und verwies auf die Verbrechen der USA, die im Irak und in Afghanistan einmarschierten. Auch dort handelte es sich um Aggressionskriege. Julian Assange, der Kriegsverbrechen der USA im Irak veröffentlicht hat, sitzt deswegen seit Jahren im Gefängnis und niemand kann ihm die Auslieferung an die USA wünschen. Man muss Sarah Wagenknecht nicht mögen, aber die Kritik an ihrer Rede als empathielos geht an den Fakten, die sie äußert, mit einer falschen Retourkutsche vorbei.

Noch schärfer wurde auf Ulrike Guérot reagiert. Hier muss man, so schwer mir dies als Feministin fällt, von einem Zickenkrieg sprechen. Die Empathie wurde ihr von der Fürsprecherin schwerer Waffen, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, abgesprochen, und Lanz, der es immerhin jetzt bis ins linke Medium FuturZwei geschafft hat, unterbricht sie ständig, so dass sie ihre Meinung nicht ausführen kann. Dass eine FDP-Frau und ein Moderator auf Guérot rumhacken, kann man vielleicht noch verstehen. Dass aber Jagoda Marinic ins gleiche Horn bläst, hat mich wirklich erschüttert. Auch sie also ein Fisch im Mainstream. Sie alle haben nicht zugehört, was Guérot sagen wollte.

In den Kriegszielen unterschied sich Scholz ebenfalls von anderen PolitikerInnen, die eine schärfere Gangart einschlagen wollen. „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“, so deren Devise. Demgegenüber sagte Scholz: „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss bestehen.“ Der Verzicht auf die Forderung, die Ukraine müsse gewinnen, wurde als Zögern, als mangelnder Glaube an den Sieg der Ukraine kritisiert. Dabei sind beide Sätze „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“ wie auch „Die Ukraine muss bestehen“ Wünsche, von denen niemand weiß, ob sie erfüllt werden können. Denn wenn Deutschland, wenn die Verbündeten nicht zu Kriegsparteien werden wollen, was geschieht dann, wenn die Ukraine die Hoffnungen nicht erfüllt? Georg Restle stellte diese Frage im Presseclub am 19.6.: „Was, wenn schwere Waffen nicht helfen? Die Frage müssen sich die stellen, die immer mehr schwere Wafffen fordern: Muss die Nato sich an diesem Krieg beteiligen oder nicht… Ich beobachte diese Diskussion …und sehe den blinden Fleck, …dass diese Frage nicht beantwortet wird.“

Jeder der aufgeführten Standpunkte hat eine gewisse Berechtigung, die Entscheidung ist sehr, sehr schwer. Es ist allerdings die Frage, ob das Scharmützel, das sich Oppositionsführer Merz und Militärexpertin Strack-Zimmermann mit Scholz lieferten, dabei hilfreich war. Denn dabei ging es um Abwertung und Recht haben, nicht um die Sache, nämlich den Krieg und das Leid und den Tod Tausender von Menschen. Da ist dann der Begriff der Empathie der Knüppel, der das Fehlen von Argumenten ausgleichen soll.

Zwei Randbemerkungen. Neben der Diskriminierung von Befürworterinnen von Verhandlungen können wir beobachten, dass auch die schrecklichen „Nebenwirkungen“ des Krieges bzw. der Sanktionen bei uns weitgehend ignoriert werden. Denn, wie Raymond/Rambert (2022:14) zutreffend feststellen: Die EU hat sich den Interessen der USA unterworfen, dabei aber weit mehr riskiert als die USA, die nicht von den ausbleibenden Öl- und Gaslieferungen aus Russland betroffen sind. Noch kritischer und beängstigend der heute erschienene Artikel von Mark Lesseraux.

Was in unseren Leitmedien zur Zeit ebenfalls weitgehend ignoriert wird, ist die Klimapolitik. Sie wird mit dem Ukrainekrieg zu Grabe getragen. Die wichtigste Wirkung des Krieges neben den geopolitischen Verwerfungen, die er unterstützt, sind nämlich die klimapolitischen Begleiterscheinungen bzw. Folgen. Harald Welzer (2022) hat dies ausführlich dargestellt, und auch Raymond/Rambert weisen darauf hin: „…die größte Heuchelei bei der Entkopplung von Öl- und Gaslieferungen betrifft die Umweltpolitik. Bei Produktion und Transport von LNG aus den USA entsteht ein doppelt so großer CO2-Fußabrdruck wie beim konventionellen russischen Gas.“ (2022: 14)

Es ist klar, dass das politische Geschäft in Zeiten der Pandemie und eines Krieges nicht leicht ist. Ich respektiere auch die getroffenen Entscheidungen und unterstelle keine Verschwörung. Was aber gut täte, um den Zusammenhalt in schwierigen Situationen zu fördern, wäre Offenheit gegenüber anderen Meinungen und Erfahrungen, und Diskussionen ohne Abwertung Andersdenkender.

Anmerkungen

(1) Das Buch von Guérot ist ein wichtiger Hinweis, aber teilweise überzogen. Vor allem fehlt es an Quellenhinweisen. Auch der neue Vorwurf des Plagiats entwertet zwar ihre wissenschaftliche Qualifikation, nicht jedoch ihre Analyse.

(2) Die Erklärungen zur Bill und Melinda Gates Stiftung sind kein Freifahrtschein für die Stiftung, die ihre Macht nicht immer im Sinne der Interessen der Betroffenen einsetzt, z.B. bei der Förderung gentechnisch veränderter Fische in Nigeria. Auch bei der Diskussion um die Freigabe der Impfpatente spielte die Bill und Melinda Gates Stiftung eine bedeutende Rolle: Sie lehnte sie ab.

(3) Ich habe in sozialen Medien nicht selbst recherchiert, sondern stütze mich auf Aussagen in den Leitmedien und bei Speit (2022).

(4) vgl. dazu meine Artikel Die neue Flüchtlingswelle – und wie weiter?, Das Ende der Gelassenheit, Armes Russland, Entführungen im Ukrainekrieg, „Sieg der Ukraine“ – Fragwürdige Rhetorik.

Quellen

Internet-Quellen sind im Text als Link zu finden.

Grande, Edgar; Hutter, Swen; Hunger, Sophia; Kanol, Eylem (2021) : Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland, WZB Discussion Paper,No. ZZ 2021-601, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin

Guérot, Ulrike (2022): Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit und darüber, wie wir leben wollen. Frankfurt .M.: Westend

Habermas, Jürgen (2022): Das Dilemma des Westens. ttps://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/das-dilemma-des-westens-juergen-habermas-zum-krieg-in-der-ukraine-e068321/

Mezzadra, Sandro (2022): Aus dem Krieg desertieren. In: medico international, rundschreiben 01/22: 12-15

Reymon, Mathias; Rimbert, Pierre (2022) Energiekrieg. Die Sieger stehen schon fest. In: Le Monde diplomatique Juni 2022: 1; 14-15

Roth, Karl Heinz (2022): Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen. Kunstmann

Speit, Andreas (2022): Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus. Berlin: Links Verlag

Stöhr, Klaus (2022) im Interview mit Ulrich Bahnsen in Die Zeit vom 15. Juni, S. 32

Welzer, Harald (2022): Krieg hat eine große Zukunft. In: FuturZwei 21: 11-13

„Sieg der Ukraine“ – Fragwürdige Rhetorik

Im Osten der Ukraine verlieren täglich 100 Menschen ihr Leben, 400 bis 500 werden täglich verletzt, so der ukrainische Präsident in einer Videoansprache. Die Menschen sterben, andere werden verwundet, wieder andere werden entführt – wie soll der Krieg in der Ukraine enden?

USA-Außenminister Blinken, NATO-Generalsekretär Stoltenberg und unsere Medien bestehen darauf: „Die Ukraine kann gewinnen.“ Die ukrainische Armee hat in der Tat beeindruckende Leistungen bei deutlich hervortretenden Schwächen des russischen Militärs erbracht. Dies erweckt Hoffnung bei allen, die der Ukraine einen Sieg wünschen. Nur: Kann irgendjemand wissen, ob die Hoffnung sich erfüllt?

Derzeit kommen die russischen Soldaten im Osten der Ukraine voran, das heißt: sie zerstören Städte, töten weitere Menschen – ob Soldaten oder ZivilistInnen. Die Überlebenden sind für ihr weiteres Leben körperlich und/oder seelisch gezeichnet. Auch die ukrainischen Soldaten töten, verwunden – es bleibt ihnen bei der Verteidigung ihres Landes, ihrer Landsleute, ihres eigenen Lebens nichts anderes übrig.

Ob sie siegen können, weiß keiner, und niemand kann berechnen, welche Opfer der Krieg bis zu einem Sieg noch fordern wird. Deswegen sind solche Vorhersagen problematisch. Noch problematischer ist allerdings die Forderung, jedeR PolitikerIn müsse nun behaupten: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“, wie es Friedrich Merz von Kanzler Scholz gefordert hat. Er befindet sich in grüner Gesellschaft, denn Annalena Baerbock fand die gleichen Worte.

Diese Aussagen bis hin zu Forderungen sind Wünsche, die den Sieg des vermeintlich Guten über das Böse vorwegnehmen. Aber erstens ist die Ukraine nicht durchweg gut, und zweitens siegt das Gute ohnehin nur im Märchen.

Die Forderungen deutscher PolitikerInnen an die Ukraine, sie werde, sie müsse siegen, gehen überhaupt nicht darauf ein, was dieser Sieg beinhalten könnte. Und was er noch kosten wird. Dass die Opposition und die Medien sich auf Kanzler Scholz einschießen, der sich diesen Termini nicht anschließt, sondern – immerhin – fordert, die Ukraine müsse bestehen bleiben und dürfe nicht verlieren, ist ein Symptom für die Psychologie des Hühnerstalls im Politik- und Mediengeschäft: Ist einmal ein Angriffspunkt gefunden, wird begeistert gehackt. Nachdenken ist überflüssig, Unsicherheit eliminiert. Wie angenehm.

Die mantraartige Wiederholung der Solidarität aller NATO-Verbündeter, auf die sich der Kanzler, die Außenministerin und die EU-Kommissionspräsidentin beziehen, vernachlässigt komplett die Rolle, die die USA und die Nato bis zum Beginn dieses Konflikts 2014 gespielt haben. Angelo Barraca hat dazu einen eindrucksvollen Artikel verfasst, und er ist nicht der Einzige (s.a. Klaus von Dohnani). Sie geht außerdem an der instabilen Situation der USA vorbei, die durch innenpolitische Unsicherheit gekennzeichnet ist, ganz abgesehen davon, dass die USA nicht auf ewig mit Europa verbandelt sind – man denke nur an Trumps Abkehr von der Nato, die den USA und uns wieder blühen kann. Derzeit gibt es zunehmend Stimmen in den USA, die darauf hinweisen, dass es keine Garantie für den Sieg der Ukraine gibt, und dass die von PolitikerInnen pathetisch vorgetragenen Forderungen an die Ukraine gefährlich sind. Das betonte auch Ulrike Guérot in der gestrigen Sendung von Markus Lanz.

Der Krieg in der Ukraine ist entsetzlich genug. PolitikerInnen und Medien sollten es sich mit Prognosen und gängigen Forderungen nicht zu leicht machen, sondern ihre Energie darauf verwenden, Ideen für eine Beendigung des Grauens zu entwickeln.

Entführungen im Ukrainekrieg

Schon im ersten Russland-Ukraine-Krieg 2014 kritisierte Amnesty International Entführungen und Folter im Donbass, allerdings von russischen wie von ukrainischen Truppen. Im zweiten Ukrainekrieg werden immer häufiger entsprechende Vorwürfe gegen die russischen Truppen laut.

Die russische Armee hat schon durch die als Kriegsverbrechen bezeichneten Vergewaltigungen, Zerstörungen von zivilen Zielen und die Ermordung von Zivilisten von sich reden gemacht. Nun also auch der Vorwurf, sie entführe ukrainische Erwachsene und Kinder in von ihnen besetzte Gebiete und nach Russland.

Vernichtung der eigenen Wurzeln: Die Kinder

Schon Ende März klagte der ukrainische Präsident Russland an, 2000 Kinder entführt zu haben. Es handelt sich um Waisenkinder oder um Kinder, die aus anderen Gründen im Heim lebten. Anfang April behauptete das ukrainische Außenministerium, ukrainische Kinder würden auf russisches oder russisch besetztes Territorium gebracht und dort von RussInnen adoptiert.

Diese Herausnahme aus dem gewohnten Umfeld trifft auf eine katastrophale Situation in der ukrainischen Kinder- und Jugendhilfe schon vor dem Krieg. Ukrainische Behörden sprachen von ca. 47.000 Kindern in Heimen, Unicef geht jedoch von 100.000 Heimkindern in der Ukraine aus. Die wenigsten von ihnen waren Waisen (ca. 5 %), die meisten wurden aus der Familie genommen, weil die Eltern überfordert, arm oder alkoholkrank waren. Auch Behinderung ist ein Grund für eine Heimeinweisung.

Kinder, die aus der Familie genommen werden, haben meist ohnehin viel Trauer und häufig auch Schrecken zu überwinden, um lebensfähig zu werden. Die dafür notwendige professionelle Unterstützung war offenbar, so die Recherche der Zeit, in der Ukraine nicht häufig gegeben. Schon vor dem Krieg gab es angestrengte Bemühungen, die Situation zu verbessern. Nun also der Krieg, in dem BetreuerInnen die Heime verlassen, weil sie sich um ihre eigenen Familien kümmern, in dem die Kinder immer wieder Keller aufsuchen müssen oder auch, nach dem Tod der Eltern, allein zurückbleiben. Die Kinder-und Jugendhilfe in Deutschland hat angefangen, zu helfen: Ukrainische Heimkinder werden bei uns kindgerecht untergebracht, aber das ist nur ein Anfang.

In dieser schrecklichen Lage werden Kinder in den besetzten Gebieten und nach Russland zur Adoption freigegeben. Der Mariopoler Stadtrat versucht, Buch über die verschwundenen Kinder zu führen und behauptet, dass 5487 Kinder aus Mariopol weggebracht wurden. Wie viele davon in Heimen lebten, wissen wir nicht. Tatsächlich ändert Russland derzeit das Adoptionsrecht für Kinder aus dem Donbass. So wird Kindern, die als Waisen oder Heimkinder ohnehin ein schlechtes Los gezogen haben, nun auch das Bewusstsein ihrer Herkunft, ihrer Wurzeln, geraubt.

Vernichtung von Widerstand

Es sind Bürgermeister, JournalistInnen wie Irina Dubutschenko, Priester und viele Unbekannte, die von russischen Streitkräften in von Russen besetzte Gebiete oder direkt nach Russland verschleppt werden. Seit Kriegsbeginn waren bis zum 11. April 125 Entführungen belegt. „Von diesen Entführten seien 34 Opfer unterdessen freigelassen und drei tot aufgefunden worden. Die UNO-Mission befürchtet, dass die tatsächliche Zahl der Entführungsopfer höher ist als diese Gesamtzahl (https://www.srf.ch/news/international/krieg-in-der-ukraine-entfuehrungen-von-zivilisten-russlands-einschuechterungskrieg).“

Und die Entführungen in den besetzten Gebieten nehmen kein Ende. Am 25. April gab die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bekannt, dass vier ihrer Mitarbeiter von Russen in besetzte Gebiete der Ukraine entführt worden seien. Ihr Aufenthalt ist unbekannt.

Wenn jedoch UkrainerInnen nicht von einer internationalen Organisation unterstützt werden, gibt es kaum eine Instanz, die die Entführungen registriert. Wir wissen nicht, wie viele UkrainerInnen in Konzentrationslagern inhaftiert, wie viele gefoltert werden. Aber wir wissen, wie es in einem solchen Lager aussieht. Eines davon hat Stanislav Aseyev, ein für die Russen missliebiger Journalist, beschrieben (2021).

Für die nach Russland Deportierten werden russische Gefängnisse freigemacht. Die Gründerin der Nichtregierungsorganisation „Russland hinter Gittern“, Olga Romanova, die über ein Netz an Informanten aus Strafeinrichtungen verfügt, berichtet, dass inhaftierte Russen aus Gefängnissen in Russland verlegt würden, um Platz für ukrainische Kriegsgefangene und Verschleppte zu schaffen. Russische Gefängnisse sind Straflager, in denen gefoltert wird.

Es wird Zeit, dass neben den Kriegstoten und -verwundeten beider Seiten, nach den bekannt gewordenen Kriegsverbrechen, auch die Entführungen durch die russische Armee skandalisiert werden. Sie finden ebenfalls auf Geheiß Moskaus statt.

Quellen
Siehe Links im Text

Aseyev, Stanislav (2021): Heller Weg. Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019. Stuttgart: ibidem

Vielleicht Esther

Das ist der Titel eines Buches, das Katja Petrowskaja verfasst hat. Vielen ist sie bekannt geworden durch den Ingeborg-Bachmann-Preis, den sie 2013 erhielt. Ich las darüber, kümmerte mich aber nicht darum – mein Bezug zur aktuellen deutschen Literatur ist bruchstückhaft. Ich erlebte sie erstmals anlässlich ihres Auftritts in einer Anne-Will-Talkshow, wo sie unter Tränen um Unterstützung mit Waffen für die Ukraine flehte.

Katja Petrowskaja ist 1970 in Kiew geboren. Sie studierte in Estland und promovierte in Moskau, seit 1999 lebt sie in Berlin. Wir müssen also davon ausgehen, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist; umso erstaunlicher ist das Buch „Vielleicht Esther“. Katja Petrowskaja beschreibt darin eine Reise zu ihren jüdischen Wurzeln. Zu längst verstorbenen Verwandten in der Ukraine, immer mit den gleichen Fragen: Wie haben sie ge(über-)lebt, wie sind sie gestorben? Ich habe in der letzten Zeit mehrere Bücher über die Ukraine gelesen, aber noch nie ist mir dieses Land so nahe gekommen wie durch den Stil dieser Autorin. Es gelingt ihr, zwischen Realität, Assoziationen und Traum Bilder von Menschen und dem, was sie wünschten und taten, aber auch von dem, was ihnen angetan wurde, in einer unglaublichen Sprachgewalt zu zeichnen, so dass mir – um zwei Beispiele zu nennen – das pädagogische Engagement für taubstumme Kinder, aber eben auch die Ungeheuerlichkeit von Babij Jar vor Augen stand, nein, ins Herz fiel und ich habe Mühe, mich davon zu befreien.

Es gibt wenige AutorInnen, bei denen ich mich bedanken möchte für die Bereicherung, die ich durch sie erfahren habe. Katja Petrowskaja ist eine solche Frau.

Armes Russland

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Putin hat einen grauenhaften Aggressionskrieg entfacht. Jeden Tag erleben wir über die Nachrichten das Leiden der ukrainischen Männer, Frauen und Kinder, die diesem Grauen ausgesetzt sind und dabei ihre Heimat, ihre Gesundheit oder ihr Leben verlieren. Aber Putin ist nicht nur für die Ukraine eine Katastrophe, er ist es auch für die russischen Menschen, für Russland. Demokratische Ansätze hat er durch eine beispiellose Koalition von Oligarchen, Kirche und Staat unter Kontrolle gehalten (vgl. Belton 2022) und schließlich zerstört. Er nimmt den nächsten Platz ein in der Reihe russischer Tyrannen, nach den Zaren, nach Stalin. Seine Politik ist gewalttätig und erzeugt ihrerseits Gewalt. Für die Bevölkerung hat das Allüberall der Gewalt verheerende Folgen.

Unterwerfung: Das Militär

Beginnen wir mit dem Militär, wo immer die Gefahr besteht, dass die negativen Seiten von Männlichkeit sichtbar werden. Es scheint, dass das russische Militär für junge Männer ein besonders gefährlicher Ort ist. Dedowdschtschina wird das System genannt, in dem erbarmungslose Praktiken und Rituale häufig zu Verletzungen bis hin zur Invalidität oder zum Tode, auch durch Selbstmord, führen. Im Jahr 2010 wurden mehr als 1700 junge Männer nach dem Militärdienst als Invaliden entlassen. Jährlich sterben 400 Soldaten, ohne in Kampfhandlungen verwickelt zu sein. Diese Zahlen stammen von offiziellen russischen Stellen, eine heutige Statistik ließ sich nicht finden. Ohnehin ist von einer Dunkelziffer auszugehen. Eine Organisation von Soldatenmüttern versucht auf Missstände aufmerksam zu machen, thematisiert aber nur in den eklatantesten Fällen die Brutalität im Militär.

Was macht eine solche Zwangsorganisation (in Russland gibt es die Wehrpflicht) mit jungen Männern? Was macht sie mit den Frauen, die mit diesen Männern leben? Und was mit den Kindern? Anhand der Forschung über Gewalt-Täter und -Opfer können wir uns die Folgen ausmalen: Die Männer, die die Rekrutenzeit überstehen, sind für ihr weiteres Leben gezeichnet, sei es durch psychische Erkrankungen (die sich auch somatisch manifestieren können), sei es durch Aggressivität. Im Konfliktfall verhalten sie sich möglicherweise genau so wie diejenigen, die ihnen Schreckliches angetan haben. Sie werden zur Brutalität getrimmt.

Welcher Menschenschlag aus diesen Demütigungen hervorgehen kann, hat Stanislaw Aseyev (2021) dargestellt. Er befand sich jahrelang in einem Konzentrationslager, das russische Soldaten für Kritiker*innen im Donbass eingerichtet hatten. Wie Assads Folterknechte scheuten auch diese Gefangenenaufseher vor keiner Grausamkeit zurück.

Es wird eine Aufgabe der Forschung sein, herauszufinden, welche Zusammenhänge zwischen der Sozialisation junger Männer im Militär und den Gewalttaten russischer Soldaten im Ukrainekrieg bestehen.

Unwissenheit und Angst: Eliminierung Andersdenkender

Der zweite Bereich, der hier thematisiert werden soll, ist die Gewalt gegenüber unliebsamen Journalist*innen. Die Mordrate ist in Russland extrem hoch, und Journalist*innen, die sich kritisch äußern oder unerwünschte Recherchen betreiben, sind besonders gefährdet. Russland ist das Land mit der dritthöchsten Mordrate an Journalist*innen. Das zweite Problem in diesem Zusammenhang ist die überwiegende Straflosigkeit, mit der Täter davonkommen.

Die Gewalt geht in vielfacher Weise direkt vom Staat aus und trifft nicht nur Journalist*innen, wie der Amnesty-Jahresbericht dokumentiert. Die Meinungsfreiheit wird auch durch die Verfolgung von Menschenrechtsaktivist*innen und anderen Oppositionellen unterbunden. Viele von ihnen werden vor Gericht gestellt, gefoltert, zu Gefängnisstrafen verurteilt oder in Straflagern eingesperrt.

Die Gefährdung und schlimmstenfalls Ermordung kritischer Stimmen hat zur Folge, dass die russische Bevölkerung sich quasi in einem Nebel von Desinformation auf der einen, und in einem Gefühl von Angst auf der anderen Seite befindet. Gegen unliebsame Meinungsäußerungen gehen Mächtige mit Mord und Totschlag vor. Und jede/r Journalist*in, der bzw. die nachforschen, aufdecken, informieren will, begibt sich in Lebensgefahr.

Die andere Armee: Rechtsextremismus und Naziszene

Wir müssen nicht in die rechtsextremistische Szene schauen, um Gewalt wahrzunehmen, vieles an Putins Politik ist rechtsextrem oder spielt dem Rechtsextremismus in die Hände. Aber auch dort hat Russland einen Spitzenplatz, insbesondere bei den Neonazis.

„Kein anderes osteuropäisches Land hat eine so gewaltbereite Neonaziszene wie Russland. Gehetzt wird gegen alle, die nichtrussischer Herkunft sind, auch Gewaltexzesse sind keine Seltenheit. Seit Jahren kursieren Tötungsaufrufe und Hinrichtungsvideos im Netz. Obwohl der Ukraine-Konflikt die rechtsextreme Szene gespalten hat, ist ihr Gewaltpotenzial ungebrochen“ (Weinmann 2016).

Die Neonaziszene ist vielfältig und gut vernetzt, so dass sie, auch über Abgeordnete der Duma, des russischen Parlaments, politischen Einfluss hatten. Ab 2008 wurden ihre Taten stärker juristisch geahndet, so dass Teile in den Untergrund gingen. Weinemann erklärt die geringere Anzahl von Angriffen der Neonaziszene mit dem Engagement der Nazis bei den Kämpfen im Donbass: Sie sind sich nicht einig, auf welcher Seite sie stehen, und so kämpfen dort derzeit nationalsozialistisch gesinnte Russen für Russland und andere für einen ukrainischen Nationalstaat.

Am russischen Kampf in der Ukraine ist auch die „Gruppe Wagner“ beteiligt, deren Gründer bekennender Nationalsozialist ist. 2016 befanden sich 6000 Kämpfer in dieser Gruppe, die sich durch große Brutalität auszeichnen und dabei auch Kriegsverbrechen begehen. Sie waren in Syrien an russischen Operationen beteiligt, haben bei der Annexion der Krim für Russland gekämpft, wie auch bei den Auseinandersetzungen im Donbas. Zur Zeit ist ist die „Gruppe Wagner“ auch in der Zentralafrikanischen Republik für Putins Interessen tätig. Zwar ist Söldnerei in Russland verboten. Das hindert Putin jedoch nicht daran, sich ihrer in Konflikten zu bedienen. Obwohl die „Gruppe Wagner“ ein privates Unternehmen ist, „fungiert sie des facto als verlängerte(r) Arm des Kremls“ (Potter 2022). Wobei nicht verschwiegen werden soll, dass auch andere Staaten die Kampfbereitschaft von Söldnergruppen nutzen – und bezahlen. Die Ziele sind unterschiedlich. In der Ukraine soll der Staat destabilisiert werden, damit Putin einen leichteren Zugriff hat.

Trump hat recht: Putin ist schlau. Er ist fähig, alle Kräfte einzusetzen, um seine Ziele zu erreichen, und keiner kann es ihm wirklich nachweisen – er lügt wie gedruckt, wie man früher sagte.

Was wird aus Russland?

Was wird aus diesem Land, dem wir auch einiges zu verdanken haben? Damit meine ich nicht die Energieimporte, sondern die Befreiung von den Nazis, die Wiedervereinigung, die Kultur. Jan Feddersen hat allein die ökonomische Bedeutung und Zukunft Russlands im Blick, die vielen anderen Facetten Russlands vergisst er. Sicher wäre es schön, Putin vor dem Gericht in Den Haag zu erleben. Aber spätpubertäre Phantasien wie die von Biden und Feddersen helfen in der gegenwärtigen Situation nicht weiter. Das Erschütternde ist zudem: Das russische Volk steht mehrheitlich hinter Putin. Auch die Heimkehr eines toten Sohnes bringt eine russische Mutter nicht von der Zustimmung zu Putins Krieg ab.

Russland ist heute nicht der einzige Unrechtsstaat, aber im Gegensatz zur syrischen, iranischen und chinesischen Regierung, um ein paar Beispiele zu nennen, hat er einen Krieg vor unserer Haustür angezettelt. Deswegen sind wir gezwungen, uns so zu verhalten, dass er gestoppt wird, da liegt Feddersen richtig. Aber genauso wahr ist, dass wir keine Chance haben, Putin in Moskau zu stürzen, wobei noch völlig unklar ist, wer danach kommt. Wir sind, was das System Putin angeht, relativ ohnmächtig. Die Sanktionen werden Putin nicht stürzen, zumal ihm jetzt China zur Seite steht. Damit ist die Schlacht um den Sieg unseres Systems, einer liberalen Demokratie, schon fast verloren. Und wenn ein Trump-Epigone den nächsten Präsidenten in den USA stellt, stehen wir, steht die Eu, alleine da.

Wir haben keine Wahl, wir müssen den Kampf der Ukraine unterstützen, ihr helfen, wo immer es geht. Neben den Sanktionen, die derzeit angelaufen sind oder noch anlaufen, erscheint die Stärkung des Widerstands in der Ukraine in jeder Form als beste Möglichkeit, Putin zu schwächen. Insofern: Ja zu den Waffenlieferungen, Nein zu den derzeitigen Friedensapellen, die zerschellen an der Notwendigkeit der Gegenwehr (vgl. Unfried 2022). Aber auch: Ja zur Stärkung der oppositonellen Kräfte in Russland und den mutigen Journalist*innen, die in der Ukraine und auch in Russland ausharren und nicht aufhören, den Schrecken des Krieges sichtbar zu machen.

Mit 81 kann ich nur spenden und schreiben. Andere können vieles besser, zum Beispiel hacken. So sehr ich mich über die freundliche Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge freue, so sehr wünsche ich mir für sie, dass sie in ein friedliches Land zurückkehren können. Und dass Russ*innen die Lügenkanonaden Putins aufdecken und sehen, was ist.

Quellen (falls nicht als Link im Text verfügbar)

Amnesty International (2022): Amnesty Report 2021. Länderreport: Russland. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/russland-2021

Aseyev, Stanislav (2021): Heller Weg. Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019. Stuttgart: ibidem

Belton, Catherine (2022: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. Hamburg: HarperCollins

Feddersen, Jan (2022): US-Präsident Biden hat recht: Das Putin-Regime zerstören. tageszeitung vom 31.3.https://taz.de/US-Praesident-Biden-hat-recht/!5841820/

Potter, Nicholas (2022): Putins rechtsetreme Schattenarmee: https://www.belltower.news/gruppe-wagner-putins-rechtsextreme-schattenarmee-128487/

Schlindwein, Simone (2022): Moskaus enger Partner in Afrika: Neurussland in den Tropen. taz vom 3.04.22

Theweleit, Klaus (1977): Männerphantasien. Frankfurt a.M.

Unfried, Peter: Vorstellungen und Realität: Können wir uns neu erfinden? taz vom 27.3.2022

Weinmann, Ute (2016): Neonazis in Russland. https://www.bpb.de/themen/rechtsext

Das Ende der Gelassenheit

Es ist wahr: Die Politik hat versagt. Sie hätte sehen können, was irgendwann passiert. Dazu brauchte sie nicht in Putins Kopf zu schauen. Es reichte doch, was er anrichtete, mal abgesehen davon, dass der KGB, aus dem er kommt, nicht für Menschenfreundlichkeit bekannt ist.

Aber darum geht es mir heute nicht. Ich empfinde selbst Schuld, und ich schäme mich. Ich halte mich für eine denkende Person, aber ich habe nichts zu Ende gedacht, geschweige denn etwas getan, um die Katastrophen zu verhindern. Der Krieg gegen die Ukraine ist doch nur der Teil seiner Verbrechen, der uns am nächsten ist, uns am meisten betrifft. Bisher. Aber vorher gab es doch schon andere Katastrophen, die Putin verursacht hat.

Und dazu kommt: Dieser Krieg zeigt, wohin die Vernachlässigung der Klimakrise uns gebracht hat: Wir unterstützen Russlands kriegerische Ambitionen mit Milliarden (1), weil wir nicht rechtzeitig begriffen haben, dass die Abhängigkeit von einem Diktator gefährlich ist.

Eigentlich hätte man den Aufstieg von Putin zum Führer Russlands schon mit Misstrauen beobachten sollen. Aber was hätten westliche PolitikerInnen machen können? Sie hatten den politischen Alltag, die Anforderungen ihrer Parteibasis und die Vorbereitung der nächsten Wahlen zu bewältigen. Und die Zivilgesellschaft verharrte in stummem Schweigen. Wir hatten so viele andere Probleme. Ich habe vergessen, ob es Kommentare gab, die Schlimmes befürchteten. Der Westen und die größten Teile unserer Zivilgesellschaft, zu der auch ich gehöre, taten jedenfalls nichts, als der seit 1975 bis in die neunziger Jahre für den KGB tätige Jurist Putin sich mehr und mehr die Macht in Russland aneignete. Er zentralisierte die Macht im Kreml, verbündete sich mit Oligarchen und schuf eine russische Mafia (2). Unterstützt wurde er von der orthodoxen Kirche Russlands, die durch Boris Jelzin als Verbündete des Staates anerkannt wurde und neuen Zulauf gefunden hatte.

Wir erfuhren diese Entwicklung kleckerweise. Wir hätten damals Zusammenhänge herstellen müssen zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Entwicklung Russlands und unserer eigenen. Das taten wir nicht. Wir schliefen ruhig weiter, denn Gas und Öl waren im Überfluss vorhanden.

Die Ermordung von Journalistinnen und Journalisten

Seit den 1990er Jahren befassen sich Recherchen mit dem Verschwinden oder der Ermordung von Journalistinnen und Journalisten in Russland (3). Hinter diesen Verbrechen steht vermutlich die russische Regierung beziehungsweise einer ihrer Geheimdienste. Dass Putin nichts davon wusste/weiß ist nicht denkbar. Eher ist wahrscheinlich, dass er bestimmte Morde in Auftrag gegeben hat.

Diese Morde sind ursächlich dafür, dass die russische Bevölkerung heute Putin akzeptiert, bewundert, liebt. Denn sie haben eine ständig schrumpfende Pressefreiheit zur Folge, da jede scharfe Kritik am Kreml mit dem Tode bestraft werden kann – ohne Gerichtsverfahren. Die Bevölkerung weiß immer weniger, in was für einem Staat sie lebt und wie es in der Welt aussieht.

Wir haben diese Morde hingenommen, mit ein paar schüchternen Protesten. Wir haben mit dafür gesorgt, dass Putin jetzt in der Bevölkerung unanfechtbar erscheint. Denn sie wissen nicht, was er tut.

Tschetschenien

Während im ersten Tschetschenienkrieg die TschetschenInnen ihre Unabhängigkeit behaupten konnten, gelang ihnen dies im Zweiten Tschetschenienkrieg nicht mehr. In der kurzen Phase zwischen den beiden Kriegen fanden eine Reihe von Anschlägen statt, die auch uns und unsere Medienlandschaften erschütterten.

Ich hatte kurz nach der Öffnung des Eisernen Vorhanges große Sympathien für das neue Russland und befreundete mich mit einer Russin, der ich im Rahmen eines Friedenskongresses Quartier angeboten hatte. Wir blieben in Verbindung, ich besuchte sie in Moskau. Zu den Anschlägen in Moskau und Beslan meinte sie, dies seien von Putin inszenierte Manöver gewesen, um Tschetschenien wieder in die Sowjetunion hineinzuzwingen.

Ich erinnere mich an die Bombardierung von Grosny, sehe noch die Bilder der Ruinen in der zerstörten Stadt. Diese Bombardierung fand unter Einsatz von höchster Brutalität, ohne Rücksicht auf das Leben der Bevölkerung statt. Das Ergebnis war verheerend. Ich war erschüttert angesichts der Videos und Fotos, sah aber keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.

Am 25.9.2001 hielt Putin eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Er betonte die Bereitschaft Russlands zu innenpolitischer Demokratie und außenpolitischer Kooperation auf Augenhöhe. Der Untergang der Kursk im Jahr 2000 lag hinter ihm. Abgesehen von den Lügen, die darüber zunächst aufgetischt wurden, gab er bei dieser Gelegenheit sein Programm für die nächsten Jahre (Jahrzehnte, wie wir heute wissen) bekannt: „Putin entwarf das Konzept eines Staates, der sich vor allem auf seine bewaffneten Kräfte stützt und die zentralen Medien straff lenkt.“ Vor diesem Programm hätte man Angst haben müssen, aber vermutlich war man im Bundestag zu froh über die Annäherungsversuche Putins. Und doch: Es war die Zeit des Zweiten Tschetschenienkrieges, der aber nur allgemein als die Bedeutung des Kampfes gegen Terrorrismus Eingang in die Rede fand. Putin konnte sich dabei auch auf den Terroranschlag auf New York am 11. September beziehen und des Beifalls der Abgeordneten gewiss sein. Sie ließen sich zu Standing Ovations hinreißen. Die in Tschetschenien ermordeten Menschen waren ja Muslime, genau die Art Leute, die das World Trade Centre angegriffen hatten – da musste man keine Fragen stellen.

Fragen stellten sie auch nicht bei den blühenden Schilderungen des Handels zwischen Russland und Deutschland. Die Betreibung und der Kauf von fossilen Energien wurde nicht thematisiert. Dabei war es schon fast zu spät. Und wir blieben gelassen bei den freundlichen Worten eines Verbrechers.

Ungehörte Warnungen zum Klimawandel

1972 gab der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ heraus. 10 Jahre wurden der Menschheit gegeben, um grundlegende Veränderungen zu initiieren und durchzuführen. Zu diesem Bericht entwickelten die Staaten keine andere Politik, schon gar keine andere Klimapolitik. Vielmehr stieß er auf massive Kritik, auch in Teilen der Wissenschaft, so dass PolitikerInnen sich durch entsprechende Änderungsvorschläge nicht hervortun konnten.

Es hätte Hunderte Gelegenheiten gegeben, die darin enthaltenen Beschreibungen als Warnung aufzufassen. Die WissenschaftlerInnen des Club of Rome wurden nicht gehört, jedenfalls nicht ausreichend.

Deutlicher als im Bericht des Club of Rome wurde 1990 im ersten Bericht des 1988 gegründeten Weltklimarats auf die Folgen des Klimawandels hingewiesen. Wer Augen hatte zu lesen, konnte alles voraussehen, was uns jetzt den Schlaf raubt. Und Putin war weiter auf dem Vormarsch, die absolute Macht in Russland zu erringen

Kaukasienkrieg und Syrien

Im Kaukasuskrieg 2008 nutzte Russland den Konflikt zwischen Abchasien, Südossetien und Georgien und versuchte, sich Georgien einzuverleiben. Die Strategie war ähnlich wie in Donezk und Luhnzk: Den Bürger*innen in Abchasien und Südossetien wurde zunnächst die russische Staatsbürgerschaft angeboten, dann begann die Aggression. Auch in diesem Falle waren die USA mit ihren eigenen Interessen nicht ganz unschuldig an der Eskalation. Der Konflikt wurde zwar mit einem Waffenstillstand ruhig gestellt, Georgien muss aber nach wie vor Annexionspläne von Russland befürchten.

2011 begann in Syrien eine Revolution, die sich zu einem Bürgerkrieg auswuchs. Russland griff auf Bitte Assads seit 2015 in den Krieg ein und entschied ihn für den Dikatator, der sich mit brutalen Methoden, darunter Folterkammern, gegen die Opposition zur Wehr setzte. Millionen von Syriern und Syrierinnen verließen das Land und kamen als Flüchtlinge nach Europa. Russland hatte sich wieder als Player auf der Weltbühne etabliert.

Frau Merkel inszenierte sich als Retterin, das war gut so, auch wenn es ihr viele Anfeindungen einbrachte. Aber hat sie jemals gesagt, wem sie das Dilemma mit den vielen geflüchteten Menschen zu verdanken hatte? Nicht dass ich wüsste. Sie hatte ja auch das russische Gas im Visier – da sollte man die freundschaftlichen Handelsbeziehungen nicht risikieren.

Es war deutlich, dass Putins Regierung kein Interesse an Menschenrechten, sondern nur an der Ausweitung der eigenen Einflusssphäre hatte. Wir hatten mit der „Flüchtlingskrise“ so viel zu tun, dass wir uns um Syrien nicht weiter scherten.

Doch schon kurz vor dem Eingreifen Russlands in Syrien hätten auch bei uns die Alarmglocken klingeln müssen, nämlich, als die Souveränität der Ukraine von Russland missachtet wurde.

Der Russisch-ukrainische Krieg

Die Ukraine als von der Sowjetunion und Russland unabhängigen Staat gibt es seit 1991. 1994 gab die Ukraine gemäß dem Budapester Memorandum ihre Atomwaffen gegen Sicherheitsgarantien an Russland ab, ohne dass diese Garantien irgendwo spezifiziert worden wären. Als die Ukraine sich stärker dem Westen zuwandte, begann die russische Regierung mit Sanktionen und versuchte die Entwicklung in der Ukraine zu stoppen. Doch die Ukraine setzte ihre Versuche fort, näher an den Westen zu rücken. Am deutlichsten wurde dies bei den Demonstrationen auf dem Maidan. Die Antwort Russlands war massiv: 2014 annektierte die russische Regierung mit einem kriegerischen Akt die Halbinsel Krim. Seitdem herrscht Krieg in der Ukraine, denn Russland sorgte in den Verwaltungsbezirken („Oblasten“) Donezk und Luhansk für den Aufbau prorussischer Milizen, die trotz der Minsker Abkommen von 2014 und 2015 den vereinbarten Waffenstillstand nicht einhielten. Es kam zu „Massenexekutionen, Zwangsarbeit, sexuelle(r) Gewalt“. Schließlich ging Putin so weit, Donezk und Luhansk am 21. Februar 2022 als eigenständige Volksrepubliken anzuerkennen. Das war drei Tage vor dem Angriff auf die gesamte Ukraine.

Putin, der Mann

Ich schreibe bewusst „der“ Mann. Denn wenn ich „ein“ Mann geschrieben hätte, würde das so klingen, als wäre er der Prototyp des Männlichen. Dem ist nicht so – Theweleit und anderen Männern wie auch meinem Liebsten sei Dank . Mein kurzer (für HistorikerInnen, WirtschaftswissenschaftlerInnen und GeographInnen unbefriedigender) Abriss der Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine wäre aber noch unvollständiger, wenn die Person Putins nicht auch betrachtet würde.

Putin hat sich immer wieder als Mann des Volkes inszeniert, der die Gefühle gerade der Menschen ansprechen kann, die Bildung nicht mit Löffeln gegessen haben, schon gar nicht von Meißener Porzellantellern. „Ich bin einer von euch“, diese Ansprache war z.B. im Kursk-Drama seine Rettung. Daneben versucht er seine politischen Überzeugungen mit allen Mitteln durchzusetzen. Und schließlich ist er ein Mann, der meint, ohne Demokratie auszukommen.

In Ute Scheubs Artikel zur „toxischen Männlichkeit“ Putins wird deutlich, wie sehr Putin auf traditionelle Männerbilder rekurriert, aber nicht nur das. Er proklamiert ein Bild von Männlichkeit, das Brutalität nicht nur bewirkt, sondern auch beinhaltet, sowohl bei kriegerischen Handlungen wie auch im Umgang mit Frauen.

Das Problem der Herrschenden ist, dass sie zumeist Männer sind, und wenn sie diesem Männerbild auch nicht immer entsprechen mögen, sie es auch nicht zum Thema machen.

Aber, und das ist eine kleine Hoffnung: Es gibt den Feminismus auch in Russland. Es gab die Pussy Riots. Die jungen Feministinnen protestierten 2012 gegen die damals erkennbare Liaison zwischen Putin und der orthodoxen Kirche, die Putin zur Macht verhalf. Sie nahmen Festnahme und Gefängnisstrafen in Kauf. Der Protest, vor allem im Ausland, war groß, aber unwirksam. Es war ausgerechnet Putin, der milde Strafen forderte und sich damit noch als barmherzig darstellen konnte.

Auch heute sind es Frauen, die ihre Stimme erheben und uns Respekt abfordern. Am 14. März demonstrierte Marina Owsjannikowa im russischen Fernsehen und sprach aus, was in Russland derzeit nicht gesagt werden darf: Es ist Krieg und alles, was hier gesagt wird, ist Lüge.

Vor drei Wochen wurde die Bewegung Feministischer Ant-Kriegs-Widerstand gegründet (4). Auch wenn dies nur kleine Pflanzen gegen das Unrecht sind, so werden sie irgendwann größere Teile der russischen Bevölkerung erreichen und wirksam werden. Hoffen wir.





Die Auswirkungen

Wir wissen noch nicht, ob die russischen Flieger die Atomruine Tschernobyl in Ruhe lassen. Sind sie überhaupt in der Lage zu begreifen, was ein erneuter Atomunfall für die Ukraine, aber nicht nur für sie bedeuten würde? Und was, wenn „zufällig“ eine Bombe an dieser Stelle fällt?

Wir wissen auch nicht, wie der Kampf gegen den Klimawandel bei der veränderten Lage weiter geführt werden kann. Es ist zu befürchten, dass Energie- und Nahrungsengpässe in der Welt alle Bemühungen, ihn zu stoppen, einschränken.

Das Schreckliche eines solchen Krieges liegt in der Mutierung der Friedfertigen. Ich habe mich über die Meldung, russische Militärmaschinen seien zerstört worden, gefreut. Ich freue mich auch, wenn Zahlen für russische Opfer unter den Soldaten angegeben werden. Das ist pervers. Denn kein Toter ist ein Trost für andere Tote.

Sicher gilt: Wir müssen genauer hinschauen, wenn Gewalt im Spiel ist, wenn autoritäre männlichkeitsbesessene Menschen Macht erringen. Wir können unsere Hände nicht in Unschuld waschen, wenn wir mit Verbrechern kooperieren.

Aber wie können wir leben mit dem Kämpfen, Sterben und seelischen Leid der Ukrainer*innen?

Ich versuche es mit Schreiben, sonst werde ich verrückt.

Anmerkungen

(1) Luisa Neubauer brachte dies in einer Sendung von Markus Lanz auf den Punkt.

(2) vgl. Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. Hamburg: HarperCollins 2022. Ein spannender Krimi – leider wahr.

(3) Im Zuge der Auseinandersetzung um die Anbindung der Ukraine an Russland oder den Westen gab es auch in der Ukraine Gewalttaten: Im Jahr 2000 vermutete man den Präsidenten Kutschma hinter der Ermordung eines Journalisten; 2004 wurde der Oppositionskandidat für den Posten des Ministerpräsidenten durch eine Dioxinvergiftung lebensgefährlich verletzt.

(4) vgl. Artikel von Svenja Schlicht: Aus dem Schatten, in: Tagesspiegel vom 17.3.2022.

Alle Angaben zu Putin, falls nicht anders angegeben, aus Wikipedia.

Pius XII. war kein Antisemit

Lange habe ich geglaubt, was eigentlich alle geglaubt haben: Papst Pius XII. hat nichts gegen den Holocaust unternommen, weil, so die Unterstellung, er eigentlich Antisemit war und/oder weil er den Kampf der Nazis gegen den Bolschewismus billigte. Ausführliche Forschungen haben dieses Urteil widerlegt, und nachdem ich mit Verurteilungen gegenüber Päpsten nicht zimperlich bin, ist es eine Sache der Ehrlichkeit, nun auch mal etwas Positives zu veröffentlichen.

Pius XII war nicht nur kein Antisemit, er hat auf vielfache Weise versucht, das Morden zu stoppen und auch auf persönliche Anfragen von Juden/Jüdinnen hilfreich reagiert. Diese nun offen gelegten Tatsachen verweisen das Stück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth ins Reich der Legenden. Peinlich für Hochhuth, peinlich aber auch für uns, die wir alles geglaubt haben.

Die neue Flüchtlingswelle. Und wie weiter?

Wir staunen, wir freuen uns: Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind dort willkommen, wo bis vor kurzem die Grenzen nicht nur dicht, sondern teilweise sogar mit Stacheldraht gesichert waren: In Polen, in Ungarn, in Rumänien werden sie freundlich aufgenommen und unterstützt, in Ländern also, die sich bisher beharrlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen eines EU-Quotierungsverfahrens gesperrt haben. Das ist wunderbar. Aber was ist anders bei den Flüchtlingen aus der Ukraine als bei denen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea? Wie kommt es zu dieser neuen Empathie mit denen, die so viel aufgeben mussten? In mehreren Punkten fühlen sich die früher feindlich gesinnten Regierungen und ihre AnhängerInnen den UkrainerInnen nahe:

  • Die Geflüchteten sind schon räumlich Nachbarn und Nachbarinnen, und nicht aus fernen Ländern. Viele PolInnen, UngarInnen, RumänInnen waren selbst schon in der Ukraine, viele kennen UkrainerInnen, die schon lange in ihrem Land leben.
  • Die meisten Geflüchteten sind von Ideologie oder Religion mit der eigenen Bevölkerung zu vergleichen. Sie sind jedenfalls zumeist nicht muslimischen Glaubens.
  • Es kommen vorwiegend Frauen mit Kindern an, während die Flüchtlinge aus fernen Ländern zum allergrössten Teil junge Männer sind. Bei Frauen und Kindern entwickelt sich Mitleid schneller als bei jungen Männern, die eher als Gefahr wahrgenommen werden.
  • Sie sind weiß, manchmal sogar blond. So kann sich Rassismus schlecht entfalten.

Europa wird auch in Zukunft der Kontinent sein, auf den viele Verfolgte, Hungernde, Vertriebene flüchten. Können wir aus der Ukraine-Krise lernen, wie wir die aus künftigen Flüchtlingswellen entstehenden Lasten besser verteilen können?

Was wir sehen, wussten wir auch schon vorher, aber es wird nochmal deutlicher: Die Fremdheit, das fehlende Wissen über die Kulturen auf allen Seiten, und die Verunsicherung über die eigene soziale Position bewirken Abwehr bis hin zur Feindseligkeit. Es gilt also, das Gefühl von Fremdheit zu reduzieren. Bildung ist dabei hilfreich.

FlüchtlingshelferInnen haben in und nach der Flüchtlings-„Krise“ 2015 bewiesen, wie eine solche Bildung nachzuholen ist: Durch Kontakt mit den Geflüchteten. Sie kennen zu lernen hieß in vielen Fällen, sie zu verstehen und auch zu mögen. So wie der Antisemitismus am stärksten angefeuert wurde bei jenen, die Juden oder Jüdinnen nicht aus ihrem Umfeld kannten, so wie der Rassismus am besten gedeiht, wenn man keine privaten oder beruflichen Beziehungen zu People of Color hat, so schwinden Vorurteile durch neue und ggf. gemeinsame Erfahrungen.

Aber es reicht nicht, wenn WIR uns bemühen, offen für Diversity zu sein. Genauso dringend ist die Bildungsarbeit in den Ländern, in denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder auch ihres Glaubens um ihr Leben fürchten müssen. Allerdings wird Bildungsarbeit die Probleme nicht lösen können, die durch Hegemoniebestrebungen verursacht werden.

Denn wenn den neu entstehenden Machtblöcken – China und Russland auf der einen, Europa und USA auf der anderen Seite – keine anderen Strategien als Aufrüstung einfallen, wenn Kriege nach wie vor geschürt werden, um Machtansprüche durchzusetzen, dann reicht Bildungsarbeit nicht aus. Die Energie wird durch diese Konflikte gebunden, gesellschaftliche Fortschritte werden unmöglich, und vor allem: Es bleibt nichts übrig für die Bewältigung des Klimawandels: Keine Kraft, kein Geld.

Von daher müssten wir ständig und ununterbrochen Appelle gegen Krieg und Aufrüstung unterstützen, wie den der Nobelpreisträger zum Abbau der Rüstungsausgaben und den der Max-Planck-Gesellschaft zum Krieg gegen die Ukraine. Das wichtigste Ziel für gesellschaftlichen Fortschritt in allen Erdteilen, in allen Bereichen, ist die Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen. Darauf sollten sich ALLE konzentrieren – nur dann können wir Erfolg haben. Und nur dann können wir erreichen, dass nicht mehr so viele Menschen flüchten müssen, um Leib und Leben zu retten.

Wie konnte es so weit kommen?

Ich übernehme einen Artikel von medico international, einer NGO, die m.E. theoretisch die besten Überlegungen anstellt und die entsprechenden Schlüsse zieht. medico international gibt Antworten, die zur Zeit nicht in unseren Medien auftauchen.

Europa ist wieder ein Kriegsschauplatz. Ein erster Versuch, die Eskalation zu verstehen.

Mit der Invasion in der Ukraine und der Abtrennung des Donbass hat das russische Regime unter Putin eine neue Runde in der imperialen Auseinandersetzung um eine neue Weltordnung eingeläutet. Es gibt dafür Vorläufer: den Einmarsch der USA und der Koalition der Willigen in den Irak unter falschen Behauptungen. Und doch gibt es für diese kriegerische Eskalation keine Rechtfertigung. Putin hat in seinen Reden angekündigt, dass er die Wiederauferstehung eines russischen Imperiums anstrebt. Mit dem Krieg gegen die Ukraine muss man diese Ankündigung ernst nehmen. Dass das russische Vorgehen sich dabei an keine Regeln hält, wissen wir spätestens seit der Unterstützung des Krieges des Assad-Regimes in Syrien mit seinen Fassbomben und Chemiewaffeneinsätzen. Jetzt gibt es nur eins: Solidarität mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung.

Als Michail Gorbatschow 1986 das Amt des Generalsekretärs der KPdSU übernahm, öffneten sich die Türen für einen Wind of Change wie selten in der Geschichte. Es war ein historischer Moment, dass ein Herrschaftsapparat sich selbst abrüstete und ausschaltete, die eigene imperiale Geschichte aufarbeitete und deren Aufarbeitung zuließ, die Verhafteten und Opfer der Diktatur rehabilitierte, die kolonisierten Völker in die Unabhängigkeit entließ, die verbotenen Filme und Bücher druckte. Es herrschte in der Sowjetunion damals so eine Art Weltvertrauen. Vertrauen in die Ehrlichkeit eines Diskurses von Menschenrechten und Demokratie, der Idee einer multipolaren Welt, die sich in der UNO konstituiert, in die menschliche Vernunft, dass Overkill-Kapazitäten und gegenseitige Abschreckung auf Dauer nicht zu einem friedlichen Zusammenleben führen können. Gorbatschows Idee vom „Europäischen Haus“ machte ihn damals – und vielleicht ist er das bis heute – zu einem der beliebtesten Politiker in Europa. Das Vertrauen war so groß, dass es niemand für nötig hielt, die Zusicherung des Westens, die NATO werde sich nicht nach Osten ausbreiten, aufzuschreiben. Die reine Vernunft – das war die gemeinsame Ausgangsbasis – sollte unsere Zusammenleben gestalten und nicht Abschreckung, Polarisierung, Nationalismus und diese Flut von Halbwahrheiten, die jede:n auf die falsche Seite verdammen, weil es keine richtige gibt.

Gorbatschow wurde damals der Satz zugeschrieben „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Er soll ihn zu Honecker gesagt haben und wenig später gab es die DDR nicht mehr. Heute könnte man diesen Satz einer westlichen politischen Elite vor die Füße werfen, denn sie muss sich fragen lassen, warum sie nicht an diesem „europäischen Haus“ gebaut hat, sondern in einer Sieger- und Überlegenheitsfantasie Russland und die anderen ost- und mittelosteuropäischen Länder in einen ökonomischen Taumel stürzte, der heute den Nährboden für eine ganz und gar antidemokratische und nationalistische Politik in all diesen Ländern ausmacht. Deshalb sind für viele mittelosteuropäische Politiker:innen die Nato und der Transatlantismus wichtiger als die EU.

Die ukrainische Bevölkerung ist die größte Verliererin der Post-Kalter-Krieg-Ordnung. Flächenmäßig das größte Land Europas mit 40 Millionen Einwohner:innen liegt es seit 1990 ökonomisch und sozial vollkommen darnieder. Die goldenen Wasserhähne des Präsidenten Janukowitsch und seinen immensen Palast, den die Menschen nach seiner Absetzung symbolisch in Besitz nahmen, sind keine Ausnahme. Die Ukraine ist nach wie vor Raubgut für Oligarchen jedweder Herkunft. Das wollte die  Maidan-Bewegung  beseitigen und setzte auf die Europäische Union, die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie versprach, die aber für Kredite ein Strukturanpassungsprogramm verlangte, das die verarmte Bevölkerung weiter verarmte. Je heftiger die Ukraine an EU- und Nato-Türen klopfte, umso mehr schlossen sie sich. Nicht einmal als Arbeitskräfte-Reservoir kommt die Ukraine in Frage, jedenfalls nicht auf dem legalen Arbeitsmarkt. Ein Drei-Monats-Visum, das die deutsche Regierung ukrainischen Arbeiter:innen ausstellt, ist das höchste Gefühle. Das reicht für Erntehelfer:innen und Mitarbeiter:innen in Schlachthöfen zu Peak-Zeiten, aber nicht um mit Rücküberweisungen die Ökonomie in der Ukraine anzukurbeln. Das wiederum gibt rechtsradikalen Gruppierungen Auftrieb, die keine Unterstützung in der Bevölkerung haben, aber als einzige politische Repräsentanz des Maidan übrig geblieben sind. Sie treiben unter den Augen westlicher Medien, die nun einen Partisanenkrieg in der Ukraine herbeifantasieren, die ukrainische Politik vor sich her und verschärfen die nationalistische Rhetorik und Politik. Dazu gehörten zuletzt die Schließung der russischsprachigen Medien und die Verhängung von Hausarrest für einen der wichtigsten Freunde Putins in der Ukraine.

Die russischen Eliten haben sich, nachdem die west-orientierten liberalen, aber nicht zu vergessen extrem oligarchischen Eliten das Land rechtzeitig verließen oder enteignet und verhaftet wurden, hinter der naheliegenden Idee geschart, dass mit dem ökonomischen auf Extraktivismus beruhenden Aufschwung der Platz am Tisch der Weltherrschaft zurückzuerobern sei. Statt Demokratisierung und Weltoffenheit lebt in Russland das Projekt des eurasischen Imperiums wieder auf, das Demokratie als westliche Idee verachtet und stattdessen die russische Orthodoxie und eine patriarchale Herrschaft als Zusammenhalt konstruiert. Das Imperium legitimiert sich nach innen und außen durch die westlichen Doppelstandards, die eigene Völkerrechtsbrüche nicht zählen, während die russischen doppelt schwer wiegen.

„Mit dem Schwert zu leben“, schreibt Achille Mbembe in der „Politik der Feindschaft“, „ist zur Norm geworden.“ Das ist schon lange der Fall, seit der „Krieg gegen den Terror“ die Welt überzieht. Nun aber ist der Krieg auch in Europa angekommen. Wer ernsthaft mit dem Gedanken spielt, er ließe sich nach wie vor auf den Donbass begrenzen, liegt falsch. Das politische Eiszeit-Szenario, das sich vor uns auftut, und das einen erneuten Krieg in Europa aus nichtigem Anlass denkbar macht, ist der Ausgangspunkt jedes vernünftigen Nachdenkens über das Kommende. Vor uns liegt also nicht nur die Frage der globalen Bewältigung des Pandemie-Geschehens, des Suchens nach einer gemeinsamen Spur, um uns global gerecht in der Klimakatastrophe zu bewegen, sondern nun auch ein möglicher Krieg um globale Hegemonien. Und im Zweifel hängt alles zusammen.

Die europäische Politik muss sich mit aller Ernsthaftigkeit fragen, wo die verpassten Chancen lagen, die einen anderen europäischen Weg möglich gemacht hätten. Ein Beispiel dafür haben wir am Anfang des Textes genannt. Wir leben in einer Zeit, in der jeder Konflikt einen Austragungsort globalen Hegemonialstrebens darstellt. Nun sind wir in Europa dank der westeuropäischen Überlegenheitsidee auch zu einem solchen Schauplatz geworden. Aus dieser Krise kann es nur einen eigenständigen europäischen Weg geben, der an die Ideen Gorbatschows anknüpft und sie in die Welt weitet. Der Horizont ist nicht der Beitritt zu einem der Imperien, die sich jetzt anbieten. Nationalismus und Supranationalismus wie die Nato sind Teil des Scheiterns einer Außenpolitik, die auf Hegemonie und Vorherrschaft setzt. Wahrer, demokratischer Multipolarismus mit all seinen Widersprüchen, eine Abwendung von jedem Nationalismus und seinen patriarchalen und chauvinistischen Grundlagen, sind der einzig denkbare Horizont.

medico international am 24. Februar 2022.

Warum nochmal Steinmeier?

Vor vielen Jahren waren wir, zwei Mütter mit Kindern, mit einem Familienferienunternehmen in Polen. Es war ein schöner Urlaub für uns alle. Auch Bernhard Docke mit seiner Familie war dort. Wir erfuhren, dass er ein Anwalt war, der sich für die Unterdrückten einsetzte. Um Geld allein ging es ihm jedenfalls nicht. Bernhard hatte inzwischen Erfolg bei seiner jahrelangen Arbeit für die Freilassung von Murat Kurnaz aus Guantanamo. Dieses Bemühen wurde jetzt verfilmt, der Film läuft auf der Berlinale: „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“.

Im Interview mit der taz spart Bernhard Docke nicht mit Vorwürfen gegen den ehemaligen Außenminister Steinmeier, der 2002 eine Aufnahme von Kurnaz in der Bundesrepublik abgelehnt hat. Deshalb musste der Häftling weitere vier Jahre in Guantanomo sitzen.

Heute nun wird Steinmeier erneut zum Bundespräsidenten gewählt. Den Presseclub haben sie heute nicht nur in der ARD, sondern auch in Phoenix abgesetzt, um diese langweilige Wahl dem Volk zu präsentieren. Ich habe mich die ganze Zeit darüber geärgert, dass sie keine/n bessere/n gefunden haben.

Natürlich wollen meine Freundin und ich in den Film gehen. Wir freuen uns auch für den Anwalt Bernhard Docke, dass seine jahrelangen Anstrengungen doch von Erfolg gekrönt waren.

Himmelsmacht Musik

Was Musik für Menschen bedeutet, ist so unterschiedlich, dass jede Beschreibung nur eine Annäherung an das Tatsächliche sein kann. In vielen Ländern singen Mütter für ihre Babies Lieder. Daneben machen Mutter und das soziale Umfeld Musik und die Kinder bekommen es mit., leider heute sehr häufig aus der Konserve. Die Kinder beginnen aber auch selbst, Töne mit Gegenständen zu erzeugen. Und so geht es weiter.

Schon in diesem Prozess werden viele Weichen gestellt. Mit welcher Art von Musik kommt das Kind in Berührung, welche Assoziationen setzen sich bei ihm fest? Zum Beispiel nutzt die bestgespielte Beethovensonate gar nichts, wenn der Papa, der sie spielt, gerade vorher das Kind beschimpft oder geschlagen hat. Oder regelmäßig danach die Mutter vermöbelt. Was alles sehr unwahrscheinlich ist, weil man kann sich nicht vorstellen, dass musische, musikalisch aktive Menschen auch böse Gefühle haben. Haben sie aber manchmal, leider. Und was die Nähe zur Musik angeht: Wenn ein Kind Pech mit seinen Eltern hat, die selbst keinen Zugang zur Musik hatten, wächst es ohne viele musikalische Anregungen auf. Vielleicht kompensiert die Schule diesen Mangel – wenn der Musikunterricht gut ist. Oder die Peers zeigen der Heranwachsenden, was mit Musik alles geht.

Mein kleiner Exkurs soll eine Einleitung sein zur Bedeutung der Musik in meinem Leben. Die ist, um das vorauszuschicken, sehr begrenzt. Aber ich hatte das Glück, musikalisch interessierte Eltern zu haben, die sich in der Klassik-Szene gut auskannten. Mein Vater hatte schon sehr früh Platten von Boulez. Davon habe ich nicht viel gemerkt, denn unser Kontakt war während meiner Jugend abgerissen. Er hatte sich eine andere Frau als meine Mutter an seine Seite geholt.

Meine Mutter stammte aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus und hatte Klavierunterricht gehabt. Wenn ich mit ihr zusammen lebte, was nicht durchgehend der Fall war, spielte die Musik immer eine Rolle. Als sie endlich eine Wohnung für sich und ihre drei Töchter mieten konnte, hörte sie oft Musik. Das Radio gehörte zu ihren ersten Einkäufen, es folgte der Philips-Mignon-Plattenspieler, in den sich Schallplatten mit 17cm Durchmesser stecken ließen. Die erste Platte, die sie kaufte, war Kanon und Gigue von Pachelbel. Ich war damals 16. Immer wenn das Stück gespielt wird, muss ich an den Beginn unseres Lebens nach den Jahren der Armut denken.

Für ein Klavier reichte es allerdings nicht. Ein Instrument konnte sie sich (und uns Mädchen) nicht leisten. Die Zeit hätte zum Spielen auch nicht gereicht. Aber nach der anstrengenden Arbeitswoche hörte sie Musik. Und inszenierte gemeinschaftliches Hören: Jeden Sonntagvormittag saßen wir nach dem Frühstück beieinander und lauschten dem Sonntagskonzert. So lernte ich einige Komponisten (leider damals noch keine Komponistin) kennen. Und unsere Mutter wusste zu jedem, was er komponiert hatte, und auch ein bisschen mehr oder weniger über sein Leben.

In diesen Jahren besuchte ich die fünfzehnte Schule. Wir hatten eine Musiklehrerin, die im Krieg bei einer Bombardierung ein Bein verloren hatte. Sie gehörte zur Generation der Frauen, denen die Männer durch den Krieg abhanden gekommen waren. Fräulein (!) Sumpf war unerbittlich, was die richtigen Töne anging, und legte größten Wert auf nicht nur richtiges, sondern auch schönes Singen. Einmal ließ sie mich vorsingen und fand meine Stimme gut, aber als ich dann nochmal vorsingen sollte, war ich nicht in der Lage, vor der Klasse meine Stimme zu erheben.

In dieser Klasse, mit der ich später Abitur machte, fasste ich Fuß, es war eine freundliche, teilweise übermütige Gemeinschaft. Aber es gab natürlich Grenzen. Eine dieser Grenzen waren die Einkommensverhältnisse der Eltern. Während einige meiner Klassenkameradinnen einmal (oder waren es zweimal?) in der Woche zu Herrn Hermesmann, ihrem blinden Klavierlehrer, gingen, fuhr ich nach Hause. Wie gerne hätte ich Klavierunterricht gehabt, aber es ging halt nicht, wir hatten nicht genug Geld.

Es gab natürlich auch etwas anderes als klassische Musik: die Schlagerwelt. Einige Klassenfreundinnen und ich hörten am Wochenende die Sendung mit Chris Howland, der die erfolgreichsten englischsprachigen Schlager vorstellte und hatten am Montagmorgen ein wichtiges Gesprächsthema: welches Lied hatte uns am besten gefallen?

In der Woche stellte ich mittags etwas zu essen auf den Tisch. In der Küche hörte ich die Musiksendung, es erklangen Operetten- und Opernarien. Ich sang begeistert mit, besonders die Lieder aus den Operetten. Einige Lieder aus Frau Luna, Die Fledermaus, Im weißen Rössl sind noch heute Ohrwürmer für mich – wenngleich Operetten für gebildete Menschen nicht angesagt sind.

Zwei Jahre vor dem Abitur war ich nicht mehr arbeitsfähig, konnte keine Vokabeln mehr lernen, hörte auch auf, zu Hause zu trällern. Vor allem aber: ich, eine Leseratte, konnte keine Romane mehr lesen. Ich war depressiv und hatte Glück, dass niemand meinen Zustand so benannte. So hangelte ich mich zum Abitur und durch die ersten Studienjahre. Es ging, nicht gut, aber irgendwie, mit viel Unterstützung seitens der Familie und der Schule – niemand stigmatisierte mich, die meisten merkten ja auch nicht, dass mich jede Leistung übergroße Anstrengung kostete.

Im Studium dann begann die Zeit, in der Musik meine Trösterin war. Im Studentinnenheim hatte ich mir einen eigenen Plattenspieler und ein paar Platten zugelegt. Beim Hören einiger Stücke konnte ich mich wieder aufrichten, wenn ich ganz unten war. Klavierkonzerte von Beethoven und anderen Größen waren der Renner. Dazu noch die Opernbesuche im Münchner Nationaltheater, wo ich auf Stehplätzen die wunderbarsten Erlebnisse hatte und meinen Opernhorizont weiten konnte.

Mit Liebe und Sex kam ich aus den Depressionen raus, auch studentische Feste taten das Ihre mit Schlagern, dann Rockmusik, wozu man so wunderbar tanzen konnte. Ich begann wieder zu lesen und zu arbeiten, aber die Depressionen verfolgten mich immer wieder. Mit der Zeit war es weniger die Wiener Klassik als Bach, der mir Trost spendete. Ich entwickelte ein spezielles Therapieverfahren: eine Platte mit Musik von Bach wie die Matthäuspassion oder Kantaten, dazu konnte ich hemmungslos weinen. Das half. Ich will aber nicht verschweigen, dass ich auch immer wieder Psychotherapien in Anspruch nahm – mit der Musik allein hätte ich es nicht geschafft, das Studium zu absolvieren und viel später zu promovieren.

Als ich mich beruflich etabliert hatte, war ich schon 40. Nun wagte ich zu denken: Ich möchte singen. Ich suchte eine Gesangslehrerin und hatte das große Glück, eine Frau zu finden, der ich noch heute verbunden bin. Mit 44 bekam ich meinen Sohn, und da ich den Vater wegschickte (würde ich heute nicht mehr machen), war ich alleinerziehend. Das fiel mir weit schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Und ich brauchte Trost zu Hause, denn ich konnte ja nicht viel weggehen. So suchte und fand ich einen Klavierlehrer, der ins Haus kam. Ich übte fleißig und konnte irgendwann auch ein Stück von Bach einigermaßen spielen. Doch der Job und mein Kleiner fraßen mich auf. Ich musste die Klavierstunden stornieren.

Der Gesangsunterricht ging weiter. Nach vielen Jahren traute ich mich, bei privaten Festen und auch zur Begleitung beruflicher Anlässe zu singen. Dann begann ich, im Chor mitzusingen, erst in dem einen, dann in einem anderen. Da ich nicht vom Blatt lesen kann, war das keine Erfolgsgeschichte, und trotzdem: Das Singen im Chor war eine Bereicherung. Der letzte Chor, in dem ich mitsang, hatte auch wieder einen phantastischen Leiter, die Proben mit ihm machten großen Spaß. Aber da der Chor mit Texten, die ich nicht mehr singen wollte, auch in Gottesdiensten auftrat, zog ich mich zurück.

Vor 10 Jahren lernte ich einen Mann kennen, mit dem ich zusammen musizieren konnte. Ich sang, er spielte Violine, Geige oder Mandoline. Er beherrschte eine Vielzahl von Instrumenten. Wir übten und übten, dann trennten wir uns, damit war auch die musikalische Liaison beendet. Schade.

Die Sehnsucht nach dem Klavier ließ mich nicht los. Ich nahm erneut Stunden – und hatte alles, was ich schon mal wusste und konnte, vergessen. Ich fing fast wieder bei 0 an. War aber inzwischen weit über 70 – was würde das werden?

Es war mir total egal. Ich hatte Freude, wenn ich die richtigen Töne erwischte und noch mehr, wenn die Melodie erkennbar wurde. Das geht so bis auf den heutigen Tag, weil ich regelmäßiges Üben einfach nicht hinkriege. Trotzdem gebe ich mich der Hoffnung hin, mit dem Immer-Wieder-Üben der Demenz vorzubeugen. Aber diese Art des Klaviergebrauchs ist wahrscheinlich genauso demenzverhindernd wie der Konsum von Schokolade mit 80prozentigem Kakaoanteil.

Als ich wieder anfing, Klavier zu üben, hatte ich meine unter mir wohnende Nachbarin gefragt, ob sie das Üben störe. „Nein, nein“, sagte sie. Vor zwei Wochen etwa traf ich sie im Treppenhaus. Und ich konnte kaum glauben, was sie sagte: „Es ist immer so schön, wenn Sie Klavier spielen.“ Ich dachte zuerst, sie will mich verarschen und entgegnete: „Aber ich kann doch gar nicht spielen!“ Sie: „Doch, doch, das ist sehr schön. Tut mir gut, wenn ich auf dem Sofa liege und entspannen will.“

Wer hätte das gedacht? Ich übe also weiter, und so wenig zufrieden ich mit meinen Künsten bin, so weiß ich doch jetzt, dass sich meine Nachbarin freut.

Heute warte ich darauf, nach einem Erschöpfungszustand wieder mit dem Singen anfangen zu können. In der letzten Gesangsstunde haben wir ein Lied von Clara Schumann aufgenommen – ist nicht perfekt, aber ich hoffe, es gefällt dir.

„Liebst du um Schönheit“, gesungen von Hilde von Balluseck
Musik von Clara Schumann, Text von Friedrich Rückert
Am Klavier: Kathrin Freyburg-Scharnick

Unorthodox

Die orthodoxen Spielarten der monotheistischen Religionen erfordern die Unterordnung unter einen Gott und unter die vorgeschriebene Lesart der religiösen Schriften. Eine Selbstbestimmung darf in diesen Kreisen nicht stattfinden, Unterwerfung ist das Ziel. Das gilt für die religiöse Rechte ebenso wie für den illiberalen Islam und Teile des orthodoxen Judentums.

Weil ich etwas gegen Orthodoxien habe, wollte ich das Buch von Deborah Feldman mit dem Titel „Unorthodox“ nicht lesen. Ich hatte die Kritiken gelesen und wusste, was darin vorkommt: eine junge Frau, die den Zwängen des orthodoxen Judentums entflieht. Dann empfahl mir ein Freund den Film, der an das Buch zwar angelehnt ist, aber die Flucht einer 19jährigen Jüdin aus den USA nach Berlin hinzugefügt hat. Ich blieb an dem mehrteiligen Epos hängen. Nicht zuletzt, als ich sah, wer die Regisseurin ist: Maria Schrader. Jene Frau, der schon der zauberhafte Film „Ich bin dein Mensch“ zu verdanken ist.

In vielen Szenen aus Kindheit und Jugend der Hauptfigur Esthy wird in „Unorthodox“ deutlich, wie ihre religiöse Umwelt das Kind, das Mädchen, dann die Ehefrau Esthy einschnürt, obwohl diese sich intensiv bemüht, eine gute Jüdin zu sein. Nicht zuletzt das Scheitern ihrer Ehe – auf die Schilderung der Einzelheiten verzichte ich – erweckt in ihr das Gefühl, dass sie nicht in diese Gesellschaft passt. Resigniert bis verzweifelt verlässt sie ihren Mann und die Familie. Ihr Ziel ist Berlin, denn von ihrer Mutter hat sie Dokumente erhalten, die die Einbürgerung in Deutschland ermöglichen. Sie hat großes Glück mit den Menschen, die sie trifft: verständnisvolle Freunde und Freundinnen, eine neue Liebe, sowie eine Mutter, von der Esthy eine ganz andere Familiengeschichte erfährt als die, mit der sie aufgewachsen ist. Und dann hat sie auch noch einen großen Erfolg bei der Suche nach beruflicher Selbstverwirklichung.

So weit eine Frauenbefreiung, ein Empowerment. Die Geschichte läuft sehr glatt, es gibt Momente des Staunens bei Esthy über das andere Leben in Berlin, aber es gibt keine Probleme mit ihrer Akkulturation und schon gar nicht mit Antisemitismus. Insofern ist der Film ein bisschen märchenhaft, denn die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen, die bei uns mit Hass im Netz und auf der Straße – man denke nur an die QuerdenkerInnen – stattfinden, werden ausgeblendet. Aber ein Film kann nicht alle Themen auf einmal behandeln. Mir hat er gefallen. Es gelingt den FilmemacherInnen, neben der anrührenden Geschichte von Esthy der Zuschauerin das orthodoxe Judentum nahe zu bringen, „nahe“ im Sinne von „ich kann euch verstehen“. Wir sehen zwar, wie Glaubensbrüder und -schwestern diskriminiert werden, die den Prinzipien der vorgeschriebenen Auslegung der Religion zuwider handeln. Der Film vermittelt aber auch Begründungen für die starre Auslegung der Heiligen Schriften des Judentums. Ihre orthodoxe Interpretation stellt ein Bollwerk dar gegen die Verfolgung von Juden und Jüdinnen, das erlittene Leid in Pogromen und schließlich die Erfahrung des Holocaust. Das Wissen darum legitimiert den Rückzug auf die alten Schriften ebenso wie den Verzicht auf eigene Entwicklungswünsche.

So antwortet Esthy in Berlin auf den Vorschlag, ihr Kind abtreiben zu lassen: Wir treiben nicht ab, wir müssen doch Kinder bekommen, wegen der vielen Toten (1).

Ein Wermutstropfen bleibt der Zuschauerin. Denn es sind die Frauen, die sich dem Geheiß der Männer und der Befriedigung ihrer Bedürfnisse anpassen müssen. Diese Herrschaft des Patriarchats ist nicht auf das orthodoxe Judentum beschränkt, sondern bestimmt auch andere Religionen. KritikerInnen an den Dogmen, vor allem auch an der Rolle der Frau, gibt es genug: z.B. in der Katholischen Kirche Eugen Drewermann, Hans Küng und Uta Ranke-Heinemann. In Israel üben Feministinnen üben Kritik an der patriarchalischen Ausrichtung des orthodoxen Judentums. Im deutschen Islam argumentiert u.a. Seyran Ates gegen eine orthodoxe Auslegung des Korans zugunsten des Patriarchats und steht dafür unter Polizeischutz.

Gefahr droht aber auch Juden und Jüdinnen in Berlin, wenn sie gewalttätige Antisemiten erleben. Auch hier gibt es tägliche Angriffe auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln. So ist es ein kleiner Trost, wenn der Film „Unorthodox“ Inseln des Respekts für unterschiedlich Denkende und divers Lebende in Berlin vorstellt.

(1) Kein wörtliches Zitat